Lobbyismus in der Forschung

Der Ernährungswissenschaftler Gerhard Rechkemmer ist Präsident des Karlsruher Max-Rubner-Instituts, das die Bundesregierung beim Thema Lebensmittel berät. Und Essen ist ein milliardenschwerer Markt, bei dem auch die Lebensmittel-Lobbyisten mit am Tisch sitzen wollen

Gerhard Rechkemmer ist seit April 2007 Chef des Max-Rubner-Instituts in Karlsruhe (www.mri.bund.de), dem Anfang 2008 eine neue Struktur gegeben wurde. Rechkemmer legt Wert auf die Unabhängigkeit des Instituts. In den Jahren vor seiner Präsidentschaft gab es zumindest in einem Fall Zweifel an der Unabhängigkeit der Forscher an der damaligen Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel. Die Kontext:Wochenzeitung hat darüber berichtet: „Im Dunstkreis der Industrie“. Foto: Röttgers

Interview von Sandro Mattioli

? Herr Rechkemmer, jeder Mensch möchte sichere Lebensmittel essen. Doch immer wieder gibt es Lebensmittelskandale. Ihr Institut liefert dem Verbraucherschutzministerium „wissenschaftliche Entscheidungshilfen“ in Fragen der Sicherheit von Lebensmitteln. Was heißt das?

Wir liefern Informationen und Daten und bewerten diese auch. Was dann damit passiert und politisch umgesetzt wird, liegt nicht mehr in unserer Hand. Diese Entscheidung wird im Ministerium getroffen. Eine Frage, die wir unlängst zu bearbeiten hatten, war die, ob die länger haltbare Milch, die jetzt im Handel ist, qualitativ schlechter ist als die kürzer haltbare Frischmilch. Unser Ergebnis war, dass die sogenannte ESL-Milch qualitativ gleichwertig ist. Geschulte Geschmackstester, die für uns arbeiten, konnten keinen Unterschied zwischen diesen beiden Milchsorten feststellen. Und auch unsere Analyse der Inhaltsstoffe bekräftigte dieses Ergebnis.

Die Arbeit ihres Instituts ist ein wichtiger Faktor für politische Entscheidungen, bei denen es um Milliarden geht – schließlich ist der Lebensmittelmarkt ein immenses Geschäft. Was können Sie als Präsident tun, um zu enge Kontakte ihrer Mitarbeiter zu Lobbyisten zu unterbinden?

Ich hinterfrage alle Vorgänge, die mir über Dienstreiseanträge oder Anträge auf Ausübung von Nebentätigkeiten bekannt werden. Geht aus ihnen nicht klar hervor, was sich dahinter verbirgt, bitte ich die Wissenschaftler, mir ausführlich Auskunft zu geben. Es kam da in der Vergangenheit auch schon zu Konfliktsituationen, als Wissenschaftler die Dinge anders beurteilt haben als ich. Ein Mitarbeiter sagte mir: „Nur weil ich ein Honorar beziehe, heißt das noch lange nicht, dass ich befangen bin.“ Das mag auch so sein, aber mir geht es darum, dass gar nicht erst der Anschein einer Abhängigkeit aufkommt.

Was Mitarbeiter in ihrer Freizeit tun, können Sie aber nicht verhindern, oder?

Ich kann, darf und will nicht kontrollieren, was meine Mitarbeiter in ihrer Freizeit tun, wenn es nichts mit ihrer Arbeit zu tun hat. Nebentätigkeiten müssen allerdings bei mir angemeldet werden, selbst wenn der Mitarbeiter Übungsleiter im Sportverein werden will. Und wenn ein Mitarbeiter am Wochenende auf einer wissenschaftlichen Veranstaltung auftritt, dort Bestandteil des Programms ist und als Mitarbeiter des MRI vorgestellt wird und ich weiß davon nichts, dann ist das ein Verstoß gegen die Nebentätigkeitsverordnung.

Ihr Institut beschäftigt sich auch mit gentechnischen Verfahren in der Lebensmittelproduktion. Wenn nun ein Kollege einen Verein gründen würde, nennen wir ihn mal Forschungskreis Gentechnik und Lebensmittel, der der Gentechnik sehr positiv gegenüberstehen würde, was würde dann passieren?

Auch ein Ehrenamt muss als Nebentätigkeit angemeldet werden. Sobald es Bezugspunkte zur Arbeit gibt, muss es mir mitgeteilt werden, und dann liegt die Entscheidung bei mir. Wenn der Verein aber als gemeinnützig eingetragen ist, haben wir rechtlich gesehen wenig Möglichkeiten. In unserem Statut steht ja, dass wir der Allgemeinheit dienen.

Ist im Statut auch die Unabhängigkeit ihres Instituts thematisiert?

In der Satzung ist festgeschrieben, dass wir wissenschaftliche Entscheidungshilfen erarbeiten und gleichzeitig die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesen Gebieten zum Nutzen des Gemeinwohls zu erweitern haben. Im Rahmen dieser Aufgaben sind die Bundesforschungsinstitute wissenschaftlich selbstständig.

Zum Thema Lobbyismus-Ferne steht nichts in der Satzung?

Nein. Da folge ich meiner eigenen Überzeugung.

Wie groß ist eigentlich das Problem von Lobbyismus in der Wissenschaft?

Zunächst einmal gibt es von der EU aus und auch auf nationaler und Länderebene bestimmte Vorstellungen, wie Wissenschaft zu arbeiten und funktionieren hat. Politische Schwerpunkte durch das Ministerium beeinflussen die Auswahl von Forschungsthemen, denn wir sind eine nachgeordnete Behörde. Wir betätigen uns sehr stark in Anwendungsfragen. In unserem Institut gibt es vier Institutsbereiche, die sich mit Sicherheits- und Qualitätsfragen von spezifischen Lebensmittelgruppen auseinandersetzen: In Kiel wird zu Milch und Fisch geforscht, in Kulmbach zu Fleisch, in Detmold sitzen unsere Getreidespezialisten und hier am Hauptsitz in Karlsruhe ist die Forschung zu Obst und Gemüse konzentriert. Lebensmittel werden ja entweder in der agrarischen Urproduktion oder in Unternehmen durch Verarbeitung hergestellt. Dass es da Kontakte und Interaktionen gibt in Form von Forschungsprojekten und dass es gegebenenfalls auch Einflussmöglichkeiten dieser Industrievertreter geben könnte, das ergibt sich aus dieser ganzen Situation.

Wie sehen solche Interaktionen aus?

Es gibt zum einen staatliche oder europäische Forschungsprojekte. Da stellt man gemeinsame Forschungsanträge, die dann von unabhängigen Gutachtern beurteilt werden. Und es gibt die Möglichkeit, direkt mit Einzelfirmen Forschungsprojekte durchzuführen. Das machen wir am MRI, zumindest seit ich an der Verantwortung bin, nur dann, wenn es um grundsätzliche Fragen geht, die auch im öffentlichen Interesse sind. Alle dabei erarbeiteten Informationen müssen dann öffentlich verfügbar gemacht werden.

Kommt es oft zu direkten Kooperationen mit Unternehmen?

In der Regel führen wir solche Projekte nicht durch. Ich schätze, 90 Prozent der Anfragen lehnen wir ab. Zehn Prozent sind für uns wissenschaftlich und inhaltlich so interessant, dass wir sagen, da sollten wir zumindest nochmal drüber reden.

Bietet ihr Institut auch Dienstleistungen für die Industrie?

Relativ häufig fragen Firmen bei uns an, ob wir Analysen für sie durchführen. Wir nehmen diese Anfragen jedoch nur an, wenn es für diese Analysen keine kommerziellen Anbieter gibt. Die Arbeit wird dann gemäß der entsprechenden Entgeltordnung abgerechnet. In all dem sehe ich kein Einfallstor für Lobbyisten.

Wenn Unternehmen große Summen in Forschungsprojekte investieren, tun sie das oftmals nicht nur in ihrem eigenen Haus, sondern in Verbundprojekten, an denen Universitäten und staatliche Forschungseinrichtungen beteiligt sind. Ist das nicht gefährlich?

Das ist politisch so gewollt. Auf EU-Ebene gibt es praktisch keine Netzwerk-Projekte ohne Beteiligung der Industrie. Sie würden auch nicht bewilligt, wenn kein Industriepartner dabei ist. Ziel dieses Vorgehens ist es, die Ergebnisse der Projekte möglichst schnell umzusetzen. Es gab in der EU-Kommission Überlegungen, den Begriff Research zu eliminieren und nur noch den Begriff Innovation zu verwenden. Anstelle von Wissenschaft und Grundlagenforschung würde man dann von Innovation reden und damit von der direkten Umsetzung von Forschungsergebnissen in industriell nutzbare Produkte. Wollen sie Mittel für EU-Projekte akquirieren, sind sie gezwungen, mit der Industrie zusammenzuarbeiten.

Sehen Sie das kritisch?

In Teilen sehe ich diese Entwicklung kritisch. Grundsätzlich habe ich aber kein Problem mit Kooperationen mit der Industrie, denn die Ressourcen, die dort zur Verfügung stehen, sind teilweise viel besser als das, was wir staatlicherseits zur Verfügung haben. Insofern profitieren wir wissenschaftlich durchaus von solchen Kooperationen.

Ist die Forschung dann nicht zu sehr an den Interessen der Industrie ausgerichtet?

Ich halte einen Punkt für wichtig: Auch bei den Firmen gibt es unterschiedliche Abteilungen. In den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen arbeiten meistens Mitarbeiter, die die wissenschaftlichen Inhalte in den Vordergrund stellen und das Eigeninteresse ihrer Firma etwas in den Hintergrund. Dann ist die Frage zu stellen: Was ist interessengeleitet? Die großen Player im Lebensmittelbereich haben ihre Strategie massiv verändert. Nestlé, Unilever, Danone und Kraft verstehen sich nicht mehr als einfacher Produzent von irgendwelchen Produkten, sondern als Gesundheits- und Lifestyle-Unternehmen. Nestlé hat im vergangenen Herbst beschlossen, eine eigene abgetrennte Firmensparte aufzumachen, die sich mit funktionellen Produkten im Gesundheitsbereich beschäftigt. Diese Sparte wird angesiedelt als ein Institut an der Universität Lausanne. Es gibt eine Anschubfinanzierung von 200 Millionen Euro für den Bereich. Die sind gerade dabei, Wissenschaftler zu rekrutieren, in einer Größenordnung von 200, 300 Mitarbeitern. Das Institut soll sich mit der Frage beschäftigen, wie Lebensmittel zusammengesetzt sein müssen, um bestimmte Gesundheitsfunktionen kausal beeinflussen zu können, eine Frage, die viele große Player seit einigen Jahren verfolgen. Und wo sie massiv investieren. Teilweise sind diese Firmen in bestimmten Forschungsbereichen Vorreiter, so wie das Nestlé-Forschungszentrum im Bereich Metabolomik.

Diesen Begriff müssen Sie erklären.

Dabei geht es darum, dass man mit neuen Messverfahren Stoffwechselprofile bestimmen kann. Wenn jemand zum Arzt geht, um zu erfahren, ob er Zucker hat, wird der Arzt ihm im Normalfall einen Bluttropfen abnehmen und einen Blutzucker-Test machen. Diabetes ist aber nicht nur eine Zuckerkrankheit, sondern sehr komplex und auch mit dem Fettstoffwechsel verknüpft. Sie bekommen also eine wesentlich bessere Aussage, wenn sie nicht nur den Blutzucker messen, sondern auch die Blutfettwerte dazu, die Harnsäure. Das heißt: Je mehr Parameter einfließen in die Beurteilung, umso präziser wird dann die Aussage. Das Ziel in der Metabolomik ist, möglichst viele für den Stoffwechsel relevante Substanzen in Blut, Urin, Speichel nachzuweisen und Profile zu erstellen, die charakteristisch sind für einen bestimmten Gesundheits- oder Krankheitszustand. Das Nestlé-Institut ist hier führend.

Sollten Universitäten nicht Distanz zu Wirtschaftsunternehmen halten, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren?

Der Trend an den Universitäten geht in die andere Richtung, und das wird von vielen Hochschulleitungen durchaus unterstützt. Die Gründung von An-Instituten, die Ausgründung von kommerziellen Unternehmen aus Instituten ist heute etwas, was politisch wie hochschulpolitisch gewünscht ist. Ich sag das mal etwas ketzerisch: Je mehr Firmen ein Lehrstuhlinhaber gründet, umso höher ist sein Renommee in der jeweiligen Einrichtung.