„Mein Kaninchen hoppelte in den Grenzstreifen“

Ursprünglich komme ich aus Heidelberg, nach Westberlin bin ich meiner Frau wegen gezogen und dann 1978 weiter nach Steinstücken. Da war es dörflicher, das mochte ich.

Die Mauer begrenzte elf Jahre lang unseren Garten und direkt daran stand ein Grenzturm, „unser“ Turm. Aus unserem Schlafzimmerfenster hat man in die Wachstube geblickt, Aug’ in Aug’ mit den DDR-Grenzern – wenn jemand Fremdes zu Besuch kam, waren die sofort mit der Kamera da. Wir hatten auch ein eigenes Mauerloch. Ein großes Stück Beton war dort herausgebröckelt.

Und an einem Sommertag ist eines meiner Kaninchen durchgeschlüpft. Ich habe zum Turm gerufen, und die Grenzer haben mich stumm in den Grenzstreifen hineingewunken. Da lief ich durch das Niemandsland und habe versucht, das Karnickel zu fangen. Ins Schwitzen bin ich da geraten, die Grenzsoldaten haben von oben zugesehen, und immer wieder ist mir das Kaninchen weggehoppelt. Aber die im Turm haben nur gelacht, bei jedem missglückten Fangversuch.

Am anderen Rand des Gartens verlief die Bahnlinie aus Potsdam, und eines Nachts, im tiefsten Winter, ist mir da ein junger DDR-Flüchtling in den Garten gesprungen, direkt vom Kohlenzug runter, der fuhr nicht so schnell. Geblutet hat der junge Kerl, erst mal ist er ins Krankenhaus gekommen. Aber eine Woche später war er mit seinem im Westen lebenden Großvater wieder da und hat ihm den Ort seiner Flucht gezeigt.

Heute ist hier nichts mehr los, aber damals war Steinstücken ein Touristenziel. Am Wochenende sind die Busse aus Berlin gekommen. Die Touristen sind überall herumgelaufen, sogar in meinem Garten. An dem Mauerloch hätte ich einen Münzguckkasten anbringen können, damit wär ich sicher richtig reich geworden!

Peinlich wurde es mir, wenn die Leute Beschimpfungen zum Turm gerufen haben. Da bin ich eingeschritten: „Die machen doch auch nur ihre Arbeit“, hab ich dann gesagt.

Oft haben Leute gefragt, wie ich hier wohnen kann. Und ich hab geantwortet: „Na was? Wir sind doch gut bewacht!“ Angst hatte ich nicht. Man gewöhnt sich so schnell. Aber wenn man diese Zeit nicht mitgemacht hat, hat man schon etwas verpasst.

Seit 20 Jahren feiern wir jetzt im Bürgerverein unsere Sommerfeste gemeinsam mit den Nachbarn aus Babelsberg. Die konnten früher immer nur die Bratkartoffeln riechen.

Günter Roßnagel, 71, hat 1978 die Westberliner Mauerenklave Steinstücken zu seiner Wahlheimat gemacht.