Der Protest zieht in die Provinz

ISRAEL Am Wochenende haben 75.000 Menschen demonstriert – von Beer Scheva im Süden bis Afula im Norden. Dabei rücken politische Fragen verstärkt in den Mittelpunkt

„Die letzten Monate haben es uns erlaubt, wieder zu träumen“

ASAF LEVI, AKTIVIST

AUS BEER SCHEVA ANDREAS HACKL

Die junge Protestführerin Stav Shafir hatte Ende vergangener Woche angekündigt, den sozialen Protest nicht auf Tel Aviv und Jerusalem zu beschränken. Genau das ist Samstagabend passiert. In mehr als 50 Bussen sind Aktivisten aus den beiden Großstädten in die israelische Peripherie gefahren, um landesübergreifende Solidarität und Einheit zu zeigen. Größere Proteste gab es in Haifa, Beer Scheva und Afula. In 14 weiteren Städten wurden kleinere Kundgebungen abgehalten. Insgesamt gingen rund 75.000 Menschen auf die Straße.

Die Aktion in der Provinz sei vor allem eine Antwort auf Anschuldigungen der Regierung, sagt Yael vom Nationalen Studentenverband. „Angeblich wollen wir in den Stadtzentren wohnen, teuer essen und es uns gemütlich machen“, spottet sie über die Aussagen mancher Politiker. „Aber heute zeigen wir, dass wir weder faul noch verwöhnt sind“, sagt sie.

Die Proteststimmung kommt an diesem Tag nur langsam in Schwung. Im Bus nach Beer Scheva gibt es keinen Jubel und keine Musik. Nur hie und da werden Gespräche geführt. „Kurz vor Mitternacht fahren wir zurück. Wer zu spät kommt, hat Pech gehabt“, warnt eine Koordinatorin. Nach eineinhalb Stunden Fahrt trifft der Bus in Beer Scheva ein, wo sich schon erste Gruppen in Richtung Kundgebung bewegen. Langsam hebt sich auch die Stimmung. Neben dem Bus rennt ein kleiner Junge vorbei, der euphorisch ein Transparent über seinem Kopf schwingt.

„Es gibt kein jüdisch und kein arabisch. Auch kein Zentrum und keine Peripherie. Es gibt nur eines: Gerechtigkeit!“, heizt der Aktivist Haim Bar Yaakov von der Bühne den rund 20.000 Demonstranten ein. Die Menge erwidert seine Worte und ruft mehrmals „Das Volk will soziale Gerechtigkeit“. Zwischen den hebräischen sind diesmal auch viele arabische Schilder zu sehen. Und beinahe alle Redner betonen die jüdisch-arabische Einheit. Das zeigt vor allem eines: Die Protestbewegung in Israel wird zunehmend politisch. Ging es am Anfang noch um teure Wohnungen, rücken heute immer mehr brisante Fragen in den Mittelpunkt. „Das hier ist ein politischer Kampf. Ich habe keine Angst davor, das laut zu sagen. Araber, Juden, Religiöse, Nichtreligiöse: Wir alle kämpfen gemeinsam“, rief die Musikerin Achinoam Nini von der Bühne.

Die Protestführung hat es bisher vermieden, neben sozialen auch politische Fragen ins Zentrum der Forderungen zu stellen. „Wir sympathisieren mit keiner Partei, weil sie alle korrupt sind“, erklärt der Aktivist Asaf Levi. Trotzdem habe die Demonstration an diesem Samstag in politischer Hinsicht Berge versetzt. „In Haifa sah man überall Schilder mit den Worten ‚Araber und Juden verweigern die Feindschaft‘. Wir beginnen einen neuen Trend, der den Nahostkonflikt maßgeblich verändern wird“, prophezeit Asaf, der vor einem Monat unter den ersten 15 Zeltbewohnern in Tel Aviv war.

Asaf stammt aus Beer Scheva und war daher am Samstagabend auch dabei. „Der Höhepunkt für mich war, als diese Beduinenfrau auf die Bühne ging und unter dem Jubel der Massen über Gleichberechtigung zwischen Arabern und Juden sprach“, sagt er und fügt in euphorischem Ton hinzu: „Die letzten Monate haben es uns erlaubt, wieder zu träumen. Stell dir eine Gesellschaft vor, die Jahrzehnte im Winterschlaf war und plötzlich aufwacht. Das sind wir.“

Beer Scheva gilt als Hauptstadt der Negev-Wüste, wo neben jüdischen Israelis rund 180.000 Beduinen leben. Viele von ihnen wohnen in Dörfern, die für den israelischen Staat illegal sind, weil sie nie Baugenehmigungen eingeholt haben. Deswegen werden sie laufend zerstört. Das „Wohnproblem“ der Beduinen ist also ganz besonders akut. „Diese Ungerechtigkeit muss jüdische und arabische Israelis verbinden“, sagt die israelische Aktivistin Haia Noach. Ein befreundeter Beduine stimmt ihr zu. „Wir sind alle eine Basis“, meint er.

Nach diesen neuen Vorzeichen könnten bald auch andere brisante Themen Teil der Protestbewegung werden. Erst am Sonntag hatte der Leiter des von der Regierung eingesetzten Verhandlungskomitees, Manuel Trachtenberg, eine Kürzung der israelischen Verteidigungsausgaben vorgeschlagen.

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