PLÜNDERN IST MAINSTREAM
: Shopocalypse now!

Trends und Demut

VON JULIA GROSSE

Der Concierge eines der größten Luxushotels am New Yorker Central Park macht sich Sorgen. Er hat von den Aufständen in London gelesen und fürchtet gewisse Parallelen mit seiner Stadt. „Ich glaube, so etwas könnte uns auch in Amerika passieren.“ Keine unberechtigte Sorge. Denn ähnlich wie London ist New York eine Hochburg der sozialen Extreme: Oben in den Hotelsuiten schlafen die Gäste auf Kissen, in deren Bezüge ihre Initialen gestickt sind. Und unten im Central Park hocken lateinamerikanische Nannies auf dem Spielplatz und bangen um ihre Anstellung, weil der vierjährige blonde Zögling vom Spielen nasse Khakis hat und sich erkälten könnte.

Der Grad der Ungleichheit hat in New York definitiv Potenzial für Aufstände im Londoner Stil. Was ist es also, was die Gesellschaft in Schach hält? Ich vermute Power. Das Werkzeug, die Wunderformel, das Prozac gegen die Ungerechtigkeit. Und jeder hat es in sich, dank Disziplin, dank Herdentrieb. Die Yogagruppe morgens um acht Uhr im Park, die Gentrifizierungsgegner in Brooklyn, die Unterschriften sammeln. Selbst der Obdachlose in der U-Bahn inszeniert sich und seine Existenzsorgen mit einer Stärke, als wolle er ein Unternehmen verkaufen. „Ich bin Kriegsveteran“, sagt er mit fester, starker Stimme. „Momentan bin ich arbeitslos, doch ich achte auf mich, auf meine Gesundheit, ich lasse mich nicht gehen.“ Power hat für New Yorker mit Weitermachen zu tun. Mit Funktionieren.

Auch London hat Power. Zum Beispiel beim Konsumieren, Verdauen und blitzschnellen Verarbeiten von Geschehnissen in Popkultur. So inszeniert ein Fotoblog derzeit die Plünderungszüge durch London als ein ästhetisches, visuelles Happening. Dank Photoshop schleppen vermummte Plünderer keine Turnschuhboxen, Sweatshirts oder Flachbildschirme mehr aus den Läden, sondern Trompeten, Teller mit Royal-Aufdrucken, niedliche Stoffbären oder gigantische Schokokekse. Auch tragen die Geschehnisse längst richtige Titel, von einmaliger Schnittigkeit, als hätten Londons Starwerbetexter mitgedacht: Shopocalypse now! Shopping with violence.

Tatsächlich steckt in diesen Begriffen bereits das ganze Dilemma: Konsum spielt während der Ausschreitungen eine zentrale Rolle. Schaut man sich die Fotos an, erinnert der Akt des Plünderns auf groteske Weise an den Akt des Shoppings. Man sieht Männer, die prüfend ein Paar Jeans an ihre Hüften halten, ein Mädchen probiert vor zerdepperten Scheiben in aller Ruhe Turnschuhe an, als befände sie sich in der Sportabteilung.

Plündern ist Mainstream, und die permanente Aufforderung an die Briten, zu kaufen, zu horden, zu konsumieren, ist gewiss nicht unschuldig daran. Wäre ich einer der Angeklagten, würde ich vor dem Gericht auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren, immerhin hätten Politik und Wirtschaft mich dazu gemacht: Ständig soll man kaufen, kaufen, kaufen, es gibt endlose Kredite. Als die Rezession kam, sollten die Briten dennoch weiter kaufen, obwohl sie ihre Jobs verloren. Den Briten wurde so lange und brutal eingetrichtert, dass ihre Konsumfähigkeit Macht ist, dass das Recht auf Konsum nun zu einer Art Menschenrecht mutiert ist. Der Ausschluss vom Konsum ist der jähe Ausschluss aus der Gesellschaft. Also plündert man sich in die Gesellschaft zurück.

■ Julia Grosse ist Kulturreporterin der taz in London