Der Fernsehturm muss mit ins Bild

ABGEDREHT Für die Filmbranche ist Berlin ein höchst attraktiver Standort geworden, Fördermittel und geringe Kosten locken die Produzenten an. Von dem Boom profitieren auch Locationscouts, die immer auf der Suche nach unverbrauchten Drehorten sind

„Den Potsdamer Platz kann ich schon nicht mehr sehen“

Locationscout Martin Zillger

VON DENA KELISHADI

Mit einem kräftigen Stoß öffnet Martin Zillger die Dachluke. Oben, auf der stillgelegten Tresorfabrik im Wedding, prüft sein Blick die rohen Backsteine, den Teer, die Graffiti. Im Hintergrund ragt der Fernsehturm in die Höhe. Zillger läuft konzentriert den Dachrand ab, hält die Spiegelreflexkamera wie ein Gewehr am Auge. Zwei, drei Mal geht er in die Hocke, sucht den richtigen Blickwinkel, drückt ab. Das Motiv ist im Kasten.

Zillger ist einer von rund 30 Locationscouts in Berlin. Produktionsfirmen buchen ihn, damit er Drehorte für ihre Fernseh- und Filmaufnahmen ausfindig macht. Ein reizvoller Beruf, findet er: „Ich darf mutterseelenallein durch ein Museum laufen, eine Nacht im Spielzeugladen verbringen und kurz nach der Weltmeisterschaft auf dem Mittelfeld des Fußballstadions kreisen“. Ein Skorpion hängt um seinen Hals. Das Tier mit dem giftigen Stachel passt zu seinen Vorlieben: das Gefährliche, das Abenteuerliche. Für Lars von Triers „Der Antichrist“ zog Zillger monatelang durch den Wald, beim Scouting für den Oscar-Filmpreisträger „Das Leben der Anderen“ durchforstete er die Stasizentrale in Lichtenberg. „Das waren Orte, an denen sich die Nackenhaare aufstellen“, sagt Zillger, dessen Mobiltelefon schon wieder klingelt. Zum vierten Mal in dieser Stunde.

Dieses Jahr seien die Anfragen an Locationscouts weiter gestiegen, die Berliner Kollegen völlig ausgelastet, berichtet Zillger. Auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die Drehs genehmigt und Straßen sperren lässt, habe erstmals eine Überlastung gemeldet. Tatsächlich verzeichnet die Behörde einen Anstieg der Anfragen um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. „Wir bewegen uns im Ranking der Filmmetropolen Deutschlands zweifellos im Spitzenfeld“, sagt Mathias Gille, Sprecher der Stadtentwicklungsverwaltung.

300 Spielfilme im Jahr

In der Praxis heißt das: 1.305 Mal wurden Berlins Straßen seit Jahresbeginn für Filmdreharbeiten ganz oder teilweise gesperrt. Das sind rund sechs Straßendrehs am Tag. Allein 300 Spielfilme werden jährlich in der Hauptstadtregion produziert, dazu kommen unzählige TV-Sendungen und Werbespots. Die Berliner Film- und Fernsehbranche mit etwa 15.000 Unternehmen und 150.000 Arbeitsstellen floriert.

Sascha Schwingler arbeitet für die Produktionsfirma teamWorx, die mit 170 TV- und Kinofilmen im Jahr zu den einflussreichen Firmen in Deutschland gehört. „Erst konzentrierte sich die Filmindustrie auf München, dann auf Köln und seit den 90er Jahren auf Berlin“, sagt Schwingler. Hier lasse sich viel günstiger arbeiten als in München, wo die Mieten für Drehorte wie Lokale oder Supermärkte viel teurer seien. Zudem pflegten die Behörden einen angenehmen Umgang, die Bewohner seien offen und gingen ganz selbstverständlich mit Drehs um. Auch Zillger spricht von der unbegrenzten Kollegialität der Behörden und Bewohner. Bei einem Dreh am Gendarmenmarkt habe er vor kurzer Zeit bedenkenlos teure Designerklamotten unbeaufsichtigt herumstehen lassen können und außerdem 150 Euro Parkgebühren gespart. Das Ordnungsamt sei zwar wegen der unangemeldeten Produktionswagen vorbeigekommen, habe aber nach kurzer Erklärung ein Auge zugedrückt.

Dass die Filmindustrie in Berlin wächst, liegt auch an der staatlichen Förderung. Das Medienboard Berlin-Brandenburg hat in Berlin seit 1994 Fördermittel in Höhe von 161 Millionen Euro vergeben. Seit 2007 gibt es außerdem die bundesweite Förderung des Deutschen Filmförderfonds, durch die jährlich 60 Millionen Euro in deutsche Filmprojekte fließen.

Aber nicht nur aufgrund der günstigen Drehbedingungen, auch der Motive wegen kommen die Filmschaffenden nach Berlin. Produzent Schwingler ist begeistert: „Ich liebe die Vielfalt der Stadt.“ Wie ein riesiges Mosaikbild sei sie für ihn. „Und es ist mir überlassen, welchen Mosaikstein ich erkunde.“ Das schönste Panorama biete sich ihm beim Blick von der Messe West in Richtung Alexanderplatz. Am Potsdamer Platz habe Schwingler schon Szenen mitproduziert, die so schick ausgesehen hätten wie das New York aus dem Film „Sex and the City“. Auch Filmdrehs in der Paris Bar am Savignyplatz oder auf der Spree an der Museumsinsel – wo seine Firma eine Verfolgungsjagd mit Jet Skis drehte – haben sich bei ihm eingeprägt. Die Stadt sei „ein super geiler Drehort“, schwärmt Schwingler.

Jet Ski und „Sex and the City“ – spiegelt das die Realität der Stadt Berlin wider? Der Filmwissenschaftler Christian Pischel von der Freien Universität in Berlin erklärt, dass Filme niemals nur die Wirklichkeit transportieren können, sondern „imaginäre Stadtbilder“ erschaffen. Zum Beispiel das Berlin als Niemandsland mit endlosen Freiräumen in Wim Wenders’ Klassiker „Der Himmel über Berlin“ oder Berlin als Clubstadt im Film „Berlin Calling“ mit Techno-Musikproduzent Paul Kalkbrenner.

Dass es bestimmte Bilder gibt, die immer wieder angefragt werden, aber wenig mit der Realität der BerlinerInnen zu tun haben, bestätigt auch Zillger. Nach dem Ausflug auf das Fabrikdach fährt er mit seinem kleinen, dunkelblauen Mitsubishi zum nächsten Motiv. Die Filmemacher wollten vor allem „das moderne Berlin mit der geradlinigen Architektur im Regierungsviertel und am Potsdamer Platz“ oder Orte des subkulturellen, modischen und dynamischen Berlins. So wie bei seinem aktuellen Auftrag. Für eine Telekommunikationsfirma, die in Berlin einen Werbespot für ein neues Smartphone drehen will, soll er in der subkulturellen Sparte suchen. Deswegen war er erst auf der alten Tresorfabrik. Jetzt deht er eine Runde zu den Mauerresten an der Bernauer Straße, die genug Graffiti tragen, um hip und urban auszusehen. „Die East Side Gallery in Kreuzberg kennt jeder“ erklärt er, deswegen hat er diesen unbekannteren Mauerrest ausgesucht.

An gewissen Orten hat sich die Filmindustrie offensichtlich festgebissen. „Den Potsdamer Platz kann ich schon nicht mehr sehen, weil ich ihn so oft scouten musste“, klagt Zillger. Auch sanierte Designer-Lofts, von denen er etliche Fotografien archiviert hat, langweilen ihn, irgendwie ähnelten sie sich alle. „Dabei gibt es so viel dazwischen, was noch nicht entdeckt wurde.“ Er erzählt von Touren durch das Köpenicker Kanalsystem, von einer Bunkeranlage in Tempelhof und dem Zossener Munitionsdepot. Jetzt fährt er erst einmal weiter und sucht einen hippen Plattenladen für seinen Handywerbespot.