Freiheit oder Abgrund

Das Hamburger Landgericht hat einen 60-Jährigen wegen Mordes verurteilt, der vor 22 Jahren eine Frau erstochen hat. Die Staatsanwältin hatte Freispruch verlangt – die Tat sei verjährt. Solche Fälle häufen sich, seit die Polizei mit DNA-Technik arbeitet

Die Polizei arbeitet systematisch ungeklärte Mordfälle auf, seit ihr die DNA-Technik zur Verfügung steht. Im Fall von Willi Z. war es dennoch purer Zufall, dass er nach 22 Jahren überführt werden konnte: Als die britische Polizei einen in England begangenen Prostituiertenmord aufzuklären hatte, fragte sie bei Kollegen aus anderen Ländern nach, ob die ein solches Tatbild ebenfalls kennen. Deshalb holte sich ein Ermittler des Hamburger Landeskriminalamtes die Akte von Blanca A. noch einmal auf den Tisch. Er stellte fest, dass damals Spuren gesichert wurden, die heute erst analysiert werden konnten. Der Fall wurde neu aufgerollt. Willi Z. wurde anhand seiner DNA-Spuren überführt. Als bekannter Stammfreier war er schon 1985 von der Polizei vernommen worden. Er hatte damals behauptet, am Tag ihres gewaltsamen Todes nicht in der Wohnung von Blanca A. gewesen zu sein.  EE

VON ELKE SPANNER

Ob ein Täter getötet oder gemordet hat, ist für die Hinterbliebenen des Opfers kein großer Unterschied. Für die Bemessung der Strafe aber ist die Frage von entscheidender Relevanz – im Falle von Willi Z. entscheidet sie darüber, ob er überhaupt noch für den gewaltsamen Tod von Blanca A. büßen muss.

Der 60-Jährige hat gestanden, seine Freundin erstochen zu haben, 28 Stiche wurden an der Leiche gezählt. Und doch sah es so aus, als würde er das Gericht als freier Mann verlassen: Die Tat ist 22 Jahre her. Mord verjährt nie, Totschlag hingegen nach 20 Jahren. Die Staatsanwältin hatte deshalb Freispruch verlangt, die Tat sei verjährt. Das Hamburger Landgericht hingegen hat den Angeklagten gestern einen Mörder genannt. Es verurteilte Willi Z., Frührentner, Ehemann und Vater von zwei Kindern, zu siebeneinhalb Jahren Haft.

Willi Z. war damals erst der Freier, dann der Freund von Blanca A. Die Peruanerin empfing ihre Kunden in ihrer Wohnung in Harvestehude, in einem reichen Hamburger Stadtteil, das Treppenhaus mit Marmorplatten ausgelegt. Willi Z. war damals jung verheiratet. Er hatte einen kleinen Sohn. Seit dessen Geburt aber lief die Ehe nicht mehr gut. Durch eine Kontaktanzeige kam er das erste Mal zu Blanca A. Immer öfter flüchtete er sich zu der 36-Jährigen, die ihm für Geld ihre Liebesdienste bot. Er war ihr Stammfreier, dann wurde es immer mehr: Die Freundschaft zwischen den beiden entwickelte sich so gut, dass sie ihn sogar gelegentlich zuhause besuchte.

Mit der Freundschaft aber fingen die Probleme an: Blanca A., sagt heute Willi Z., wollte nicht mehr nur bezahlte Geliebte sein. Sie wollte mit Willi Z. zusammenleben. Der aber lehnte die Trennung von seiner Frau ab, aus Angst, den Kontakt zu seinem Sohn zu verlieren. Am 27. November 1985 kam es dann zum Streit. Blanca A. soll gedroht haben, seiner Frau von ihrem Verhältnis zu erzählen. Da will Willi Z. ausgerastet sein. Plötzlich habe er ein Messer in der Hand gehalten und zugestochen, wie von Sinnen, verlasen seine Anwälte eine schriftliche Erklärung.

Wäre die Kammer dieser Version gefolgt, wäre Willi Z. ein freier Mann: Für einen Totschlag im Affekt könnte er nach mehr als 20 Jahren nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Das Gericht ist dem aber nicht gefolgt. Es verurteilte Willi Z. wegen Mordes. Obwohl es einräumen musste, dass die Umstände, die einen Mord vom Totschlag unterscheiden, nach 22 Jahren kaum mehr zu rekonstruieren sind. Ob Bianca A. arg- und wehrlos war, als der erste Stich auf sie niederging. Ob Willi Z. die Hilflosigkeit der Frau bewusst ausnutzte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Das Gericht ist davon überzeugt. „Sie haben im Streit den Entschluss gefasst, sie zu töten“, hielt es Willi Z. vor. „Blanca A. lag nackt auf ihrem Bett, als Sie zustachen. Der Angriff kam für sie unerwartet.“

Das Gericht sagte auch, dass es vor eine hohe Anforderung gestellt war, 22 Jahre später ein Urteil sprechen zu müssen. Solche Fälle häufen sich, seit der Polizei die Technik der DNA-Analyse zur Verfügung steht. Seit der genetische Fingerabdruck bestimmt werden kann, arbeitet die Polizei nicht nur aktuelle Mordfälle damit auf: Die Ermittler haben auch Akten von Mordfällen wieder aus dem Archiv geholt, die längst als ungeklärt in die Geschichte eingegangen waren. Wurden am Tatort menschliche Spuren wie Bluttropfen, Sperma oder etwa Speichelreste an Zigarettenstummeln asserviert, können diese noch Jahre später mit DNA-Technik entschlüsselt werden. Für die Angehörigen, die mit dem Trauma eines ungeklärten Todes der Opfer leben mussten, sind diese kriminalistischen Fortschritte von unschätzbarem Wert.

Die Justiz aber ist dadurch vor neue Herausforderungen gestellt: Strafe soll unter anderem der Resozialisierung der Täter dienen. Nun haben die Gerichte vermehrt über Täter zu entscheiden, die seit ihrer Tat selbst in ein bürgerliches Leben zurückgefunden haben. So wie Willi Z.: Als er verhaftet wurde, lebte er mit seiner jetzigen Ehefrau in einem kleinen bayerischen Dorf. Der gelernte Drogist war inzwischen Frührentner, seine Frau arbeitete als Lehrerin. „Sie haben Ihr Leben nach dem Mord ganz normal weitergelebt“, resümierte das Gericht.

Zwischen Mord und Totschlag liege „ein feiner Schritt, der auf der einen Seite in den Abgrund, auf der anderen Seite in die Freiheit führt“. So formulierte es der Anwalt, der für den Bruder von Blanca A. die Nebenklage vertrat. Das Gericht entschied sich für einen Mittelweg: Es verurteilte Willi Z. wegen Mordes – und milderte die gesetzliche Höchststrafe von 15 Jahren auf siebeneinhalb Jahre Gefängnis ab. Vor dem Hintergrund ihrer konflikthaften Beziehung habe Willi Z. in großer Erregung und damit „vermindert steuerungsfähig zugestochen“. Das ist ein Grund. Ein anderer: „Auch ein 60-jähriger Gefangener muss die Chance erhalten, eines Tages wieder in Freiheit zu kommen.“