Virtuosin an der Nähmaschine

Entfesselte Maschinenstickerei im Breitwandformat, Steppen einmal ganz anders und die Tücken der Farbe Grün: Zum hundertsten Geburtstag der Textilkünstlerin Lotte Hofmann

VON REINHARD KRAUSE

Als die Fracht nach langem Briefwechsel endlich im Museum ankam und in Augenschein genommen werden konnte, war der erste Eindruck durchaus nicht zum Jubeln. Diese riesigen Formate – 7,30 Meter breit, 3,60 Meter hoch! Diese vielen Farben, diese Berge von unterschiedlichsten Stoffen … Schnell wurde alles wieder zusammengeklappt. War es überhaupt eine gute Idee gewesen, die Wandbehänge anzunehmen? Und dann gleich drei davon!

Begeisterung kam erst ein paar Tage später auf, als die Wandbilder zur Zustandsdokumentation im Vestibül des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe ausgelegt waren. Von der Balustrade aus konnten sie in ihrer vollen Pracht begutachtet werden. Jetzt erst erwachten die amorphen Stoffflächen zu Leben, entfaltete das scheinbar ungeordnete Nebeneinander der Stoffe – von Wolle bis Kunstfaser, von Seide bis zu gekräuselten Polsterstoffen – seine Wirkung. Jetzt ließen sich das „Aquarium“, der „Kristallberg“ oder der „Lotus-Teich“, so die Titel der abstrakten Collagen, erahnen. Jahrzehntelang hatten die in den Sixties entstandenen Wandteppiche den Ballsaal des Düsseldorfer Hilton Hotels geschmückt, nun war zumindest das Problem gelöst, was aus den exklusiven, aber schon etwas in die Jahre gekommenen Textilien werden sollte. Hamburg übernahm drei der sechs Teppiche, das Deutsche Textilmuseum in Krefeld einen und das Grassi Museum in Leipzig zwei von ihnen.

Geschaffen hat die Wandbilder Lotte Hofmann (1907–1981), ein wahrer Solitär unter Deutschlands Kunsthandwerkern der Nachkriegszeit. Gestern wäre sie hundert Jahre alt geworden. Als Gewerbelehrerin beherrschte „LoHo“, wie sie von der Schar ihrer Bewunderer genannt wurde, alle Techniken textiler Gestaltung vom Klöppeln oder Sticken bis zum Weben, doch sie verlegte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende ihrer Unterrichtstätigkeit vor allem auf Applikationstechniken, vulgo: das Nähen. Und zwar keineswegs in mühevoller Handarbeit. Was für andere Künstler der Zeichenstift ist, das war für Lotte Hofmann die Nähmaschine. Freundinnen und Kunden, die sie in ihrer Werkstatt besuchten, erinnern sich, wie sie, an der Maschine sitzend, gleichzeitig mit den Gästen plaudern und – im wahrsten Sinne des Wortes – im Handumdrehen eine gewaltige Zahl genähter Kreise zaubern konnte, die mit unfehlbarer Gewissheit stets wieder an ihrem Ausgangspunkt ankamen. (Don’t try this at home!)

So souverän Lotte Hofmanns große Bildwerke oder Bühnenvorhänge auf Fernwirkung ausgelegt sind, so sehr erweist sich ihre künstlerische Durchgestaltung in der Nahsicht, im raffinierten Detail. Denn keineswegs handelt es sich bei den benutzten Stoffen, wie man zunächst meinen möchte, um teure, mit vielerlei Fäden durchwirkte Brokate. Jedes kleinste Fitzelchen Stoff ist erst auf der Nähmaschine zu einem sorgsam gestalteten Minikunstwerk im Kunstwerk geworden.

Auf dem kleinformatigen Wandbild „Harem“ etwa (siehe Foto) besteht allein der mitternachtsblaue Himmel über den goldglänzenden Minaretten aus einer Vielzahl übereinander aufgenähter Stofffleckchen und hunderten maschinengestickter Kreise. Oder das Eingangstor zum Serail: Hierfür wurden in Legearbeit Dutzende lurexbeschichtete Fäden appliziert. Auch die markanten Längsstreifen und die Bildumrandung bestehen nicht einfach aus aufgenähtem Plüsch; vielmehr entstanden sie in der von Lotte Hofmann erfundenen „Fleckle“-Technik. Hierfür steppte sie mehrere Lagen von Stoffstreifen auf das Trägermaterial, um dann die Ränder rechts und links der Naht auszufransen. Auf diese Weise entsteht ein besonders „pelziger“, farbintensiver Effekt. Die sieben Haremsdamen in ihren Fensteröffnungen wiederum sperrte sie anspielungsreich hinter ein Gespinst feinster Goldfäden.

Gut, Bauhaus sieht anders aus. Und doch war Lotte Hofmann eine Schülerin von Johannes Itten. Ihre Zeit am Bildungsinstitut des vormaligen Bauhaus-Lehrers bezeichnete sie als prägend für ihr ganzes Leben. Während ihrer Ausbildung zur Kunstgewerbelehrerin hatte sie von 1927 bis 1930 Abendkurse an der Berliner Ittenschule besucht. Neben der Auseinandersetzung mit der Gestaltungs- und Formenlehre des Schulgründers lernte sie hier vor allem, die unterschiedlichsten Materialien zu mixen. Ab 1933 unterrichtete sie in Königsberg an der Ostpreußischen Kunstgewerbeschule. Ihr künstlerischer Durchbruch kam, als sich Lotte Hofmann nach der Flucht in den Westen 1945 neu orientieren musste. Im schwäbischen Hausen entstanden zunächst Stofftiere und Kaffeewärmer aus einfachsten Materialien – doch schon bald lag der Schwerpunkt der Werkstatt auf immer raffinierteren Wandbehängen. Es entstand der unverwechselbare LoHo-Stil, für den Lotte Hofmann mit allen erdenklichen Preisen des deutschen und internationalen Kunsthandwerks geehrt wurde.

Die spektakulärsten Arbeiten in „Fleckle“-Technik erinnern mit ihrem flirrenden Farbspiel goldener, schwarzer und sandfarbener Quadrate und den aufgelegten „Baum“-Streifen an Gustav Klimt oder an die Landschaftsbilder der Pointillisten. Doch während deren Werke unter einer Firnisschicht gut geschützt sind, ist Textilkunst dem Zahn der Zeit – und dem Licht – viel stärker ausgesetzt. Und nicht alle Farben altern gleich gut, wie der „Harems“-Teppich zeigt: Einige der Vertikalstreifen waren ursprünglich in einem strahlenden Türkis gehalten, wie man an den lichtabgewandten Steppnähten noch deutlich erkennen kann. Heute präsentieren sie sich in einem verwaschenen 4711-Grün.

Die Alterungsneigung des Materials wie auch die Schwierigkeit, ein solches textiles Kunstwerk überhaupt zu säubern, wurden bereits einigen der großformatigen Bildwerke zum Verhängnis. Der gewaltige Bühnenvorhang der Mainzer Rheingoldhalle etwa – acht Meter hoch! vierzig Meter breit! – entging nur knapp der Vernichtung, weil der Hersteller, der mit der Fertigung eines neuen, feuerfesten Vorhangs beauftragt worden war, zufällig ein Bewunderer Lotte Hofmanns war. Derzeit soll das ausrangierte Stück mehr schlecht als recht in einer Montagehalle hängen. Immerhin.

Auch die drei Museen, die das Erbe des Hilton’schen Ballsaals angetreten haben, stehen vor konservatorischen Herausforderungen, wie Angelika Riley erläutert, die Leiterin der Textilabteilung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. „Schon allein das schiere Gewicht macht die dauerhafte Lagerung schwierig. Hinzu kommt, dass die Behänge durch die Applikationstechnik sehr steif sind, bei gleichzeitiger Fragilität einzelner Materialien.“ Um mechanische Belastungen weitmöglichst auszuschließen, so Riley, müssten die Wandteppiche idealerweise bei konstanten 18 bis 20 Grad Raumtemperatur, 55 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit und unter Lichtausschluss flach ausgebreitet oder auf große, gepolsterte Rollen gewickelt werden. Maßnahmen, die erst nach der umfassenden Sanierung des Museums in einigen Jahren realisierbar werden. Wann der ein oder andere der Hilton-Teppiche einmal zu sehen sein wird – ob in Hamburg, Leipzig oder Krefeld –, ist derzeit nicht absehbar.

Dass auch die Erinnerung an LoHo nicht ganz verblasst, dafür sorgt seit zwanzig Jahren eine Stiftung, die in unregelmäßigen Abständen den Lotte-Hofmann-Preis verleiht, den einzigen Preis in Deutschland, der ausschließlich der Textilkunst gewidmet ist. Die nämlich hat Unterstützung bitter nötig, wie Annedore Iwersen, Kuratoriumsmitglied und selbst Handweberin in Flensburg, seit vielen Jahren beobachtet. Die Zahl der Auszubildenden ist im Bereich Textil dramatisch gesunken, wie auch die Zahl derer, die anschließend von ihrer Arbeit leben können.

Doch schlägt die Geschichte bisweilen Kapriolen: Gerade Grüntöne, erzählt Annedore Iwersen, verblassen relativ schnell und werden unansehnlich. Und so kommt es, dass die evangelische Kirche, die in der Nachkriegszeit für volle Auftragsbücher sorgte, allmählich wieder Bedarf an handgewebten grünen Antependien entdeckt. Und aus Gründlichkeit werden auch die roten, weißen, violetten und schwarzen gleich mitbestellt. Grün ist die Hoffnung!

Zu Lotte Hofmanns 100. Geburtstag sind im Rathaus von Oberrot, Baden-Württemberg, Werke von ihr zu sehen. Nur bis zum 3. August! REINHARD KRAUSE, 45, ist taz.mag-Redakteur