Retardierte Jugend

Das Berlin Festival, in diesem Jahr im Poststadion zu Moabit, ist vor der Bühne ein Albtraum. Da hilft auch der große Auftritt von WhoMadeWho aus Kopenhagen mit Kuhglocke und Truckergitarre nüscht

VON DAVID DENK
UND KIRSTEN RIESSELMANN

Freitagabend gegen halb neun betritt sie die Bühne. Sie hat sich in einen silbrig glänzenden Spandex-Overall gezwängt, nur ihre Brüste haben beim besten Willen nicht mehr reingepasst, die Nippel hat sie daher mit zwei Aufklebern bedeckt. Auf dem einen Aufkleber steht „Berlin“, „Youth“ auf dem anderen. Zwei Stichworte, auf die wir zurückkommen werden. Doch erst mal schmeißt die Spandex-Frau ihre Zaubermaschinen an und beginnt zu rappen. Dabei hopst sie wie von Sinnen über die Bühne. Die Aufkleber wippen im Takt.

Als Princess Superstar loshopst, gibt es auch vor der Bühne kein Halten mehr. Wie auf Kommando knipst das äußerst bunte, aber alles andere als gemischte Mitte-Publikum sein schönstes Pillengrinsen an und bewegt sich betont exzessiv. Wie gesagt: Es ist halb neun. Es ist gespenstisch. Ein der Zeit, dem Ort und selbst der druckvollen Prinzessinnen-Performance völlig unangemessener Freak-out. Eine Euphoriesimulation, die so kalt und tot ist wie Tiefkühlkost – und wie die Neonfarben überall. Es scheint den damit vorsätzlich Verunstalteten nicht aufzufallen. Oder nichts auszumachen. Oder weder noch.

Das Berlin-Festival ist ein nicht enden wollender Albtraum. Nach der zweiten Auflage im vergangenen Jahr hätte man schwören können, dass es keine dritte geben würde. Doch es gibt sie, und sie ist noch furchtbarer als die zweite. Das liegt vor allem daran, dass jeder, der weiß, was eine Gästeliste ist, auf der Gästeliste des Berlin-Festivals steht. Und das sind in Berlin eine ganze Menge. Viel mehr, als so ein kleines Festival wirtschaftlich vertragen kann, aber das kann man die Sorge der Veranstalter Hilary Kavanagh und Conny Opper sein lassen.

Selten aber hat man auf einem Festival so viel simulierten Spaß beobachtet und so wenig echte Begeisterung für Musik gespürt: Erobique, Midlake, Shitdisco, Peter, Bjorn and John, Tocotronic – eigentlich ist es völlig egal, wer auf der Bühne steht. Die Gästelisten-Gäste wirken, auch wenn sie sich in ihrem virtuellen Euphoriemodus befinden, gleichmäßig desinteressiert. Sie sind einfach zu cool, um Fan zu sein. Deswegen trägt auch kaum jemand ein Band-Shirt. Das einzige Bekenntnis, zu dem sie sich hinreißen lassen, ist das zu ihrer Kindheit, die niemals enden möge. Die Mädchen tragen Ballettschühchen und Gummistiefel, die Jungs spielen Tischtennis und Kicker. Die Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber augenfälliger als beim Berlin Festival wurde sie selten untermauert: Die Berliner Jugend ist retardiert. Und das Schlimmste daran: Sie hält es für völlig normal. DD

Lernen von den Rrriot Girls

Am Samstag gab’s kein Deuteln mehr: Berlin und sein Ausgeh- bzw. Urban-Outdoor-Leben sind komplett in die Hände von Leuten gefallen, die sämtlichst unter der Fuchtel eines unzurechnungsfähigen Geschmacksdiktators stehen. Über das ganze schöne Festivalgelände im Moabiter Poststadion, auf dem an normalen Tagen der Fuchs den Campern aus Übersee gute Nacht sagt, wuselte homogene Abscheulichkeit: Die ganz enge Röhrenhose, das überweite Oberteil in Knallfarben, neonfarbene Dreiecks- und Sternchenprints, neonfarbene Ohrringe, die Ballerinas und die 80er-Stiefeletten, die übergroße Sonnenbrille, um jeden Hals ein Stöffchen – bei den Frauen gern der Pali-Schal in Pink, Grün, Gelb.

Immerhin regnete es nicht, entgegen der Wettervorhersagen. Vor den Bühnen, Klos und Burger-Ständen war es angenehm gefüllt, 1.000 Menschen mehr hätten aber schon noch reingepasst. Das Hin-und-Her-Gerenne zwischen großer und kleiner Bühne hätte man sich aber sparen können: Die erträglicheren Dinge passierten auf der gemütlichen, kleinen Vice-Stage hinterm leeren Schwimmbecken des Campingplatzes. Hier zeigten die Jolly Goods (eine 16- und eine 19-Jährige aus Rimbach im Odenwald), was von Rrriot Girlism noch gelernt werden kann. Trashiger Punkrock nämlich, keinerlei positive Regung zeigen, dazu den Lippenstift verwischen und „I hate to fuck you!“ ins Mikrofon brüllen. Die Kilians aus Dinslaken wiederum verkörperten sympathisch die deutschen Arctic Monkeys. Die Mädchen machten Handyfotos, als des Schlagzeugers Brustwarzen durch das schnell durchgeschwitzte T-Shirt leuchteten.

Die Presets aus Australien bezogen sich wie viele andere Bands des Festivals auf die Mitt-Achtziger, meinten es mit alten Synthies und Düstergesang aber sehr viel ernster. Sie hatten jedoch Probleme, sich gegen einen durch die Luft gestupsten, riesigen schwarzen Nokia-Gummiball durchzusetzen. Als der dann endlich auf der anderen Seite des Zauns landete, piepsrappte Uffie aus Frankreich très leger über die Booty-Tunes ihres DJs.

Peaches als Hauptact auf der großen Bühne sparte sich außer ihrem pinken Glitzerbody alle weiteren Showeinlagen, Bühnenkomparsen und Innovationen. Hits, Hits, Hits, lediglich auf einem renovierten, fett gemästeten Soundbett präsentiert. Toll, und zwar richtig toll, waren dann schlussendlich: WhoMadeWho aus Kopenhagen. Lob, Preis und Ehr‘ den wohlplatzierten „Funkytown“-Kuhglocken, der vorwärtsgedroschenen Off-Hihat, dem Disco-Oktavbass, der schweinsrockenden Trucker-Gitarre und dem treffsicheren Falsett-Gesang. Zu diesem Zeitpunkt war’s dann auch zu dunkel, um sich von Farbspielen im Publikum ablenken zu lassen.

Fazit: Ein Festival mitten in der Stadt an einem romantischen Ort ist eigentlich eine schöne, begrüßenswerte und sehr praktische Sache. Im Angesicht der Penetranz mancher Modetrends wäre es nur wünschenswert, sie ausschließlich im Dunkeln stattfinden zu lassen. KR