Hoch hinaus und tief hinunter

Hier grübelte schon der mittelalterliche Dichter Gottfried von Neifen über Gott und die Welt. Hier zerbrachen sich 1948 Politiker den Kopf, wie sie den Südweststaat schaffen könnten. Auf dem Hohenneuffen. Hoch überm Stuttgarter Kessel kann man die Gedanken schweifen lassen, weit hinaus in die Welt

von Josef-Otto Freudenreich, Susanne Stiefel und Rainer Nübel

Von oben und die Augen nach Norden gerichtet, glaubt man den Silberstreif am Horizont schon zu erkennen. Rasend und flüchtig, vorbeihuschend am Heizkraftwerk Altbach (EnBW), am 33 Meter hohen Regenturm des Hundertwasserhauses in Plochingen, dem Fingerzeig zum Himmel. So düst er dahin, der ICE, auf der Schnellbahn nach Ulm. Durch diese „gesegnete Gegend“ , die herrlicher nirgendwo zu finden sei (Mörike).

Aber das ist nur Fantasie, weil der Zug hier nicht mehr fahren wird, wenn kommt, was so viele befürchten. Fünf Minuten schneller nach Ulm. Man steht oben auf dem Hohenneuffen und sitzt doch im rollenden Bistro, bei einem Croissant und einem Heißgetränk für drei Euro fünfzig vielleicht, und wartet auf den Hundertwasser linker Hand. Danach auf Geislingen, das es zu umfahren gilt, im weiten Bogen. Am Friedhof, rechts unten, ist der Zug besonders langsam, die Steige besonders steil, was Günther Oettinger schon zu schlimmen Befürchtungen veranlasst hat.

Die Eisenbahn könnte an dieser Stelle, so hat der ehemalige Ministerpräsident gemutmaßt, rumpeln und ruckeln, und schon hätte Nicolas Sarkozy seiner Begleiterin Angela Merkel den Bordeaux auf das grüne Jackett gekippt, wenn sie auf der gemeinsamen Fahrt nach Wien wären.

Oben auf der Alb, bei Amstetten, wird der Zug wieder schneller, aber nicht schnell genug, um die Gießerei der Heideldruck GmbH zu übersehen. Hier gilt es, im Geiste, Hartmut Mehdorn zuzuwinken, der einst Vorstandsvorsitzender der Maschinenbauer war, bevor er Bahnchef wurde. Manche werden jetzt sagen, er wäre besser bei den Druckmaschinen geblieben, andererseits hat er die legendäre Magistrale Paris – Bratislava als „Bullshit“ bezeichnet. Mehdorn wollte die ICEs im nationalen Kreis herumsausen lassen, womit er im Café Größenwahn zumindest einer der Bescheideneren war. Ein kleiner Gruß nach rechts ist deshalb schon okay.

Mit diesen Gedanken steht der Betrachter auf der Burg und überlegt, wozu das alles gut sein soll. Warum untendurch graben, wo es oben so schön ist? Warum den Blick nicht wandern lassen, sondern eintunneln? Man könnte dann auf schlimme Ideen kommen wie der Dichter Heinrich Steinfest, der von einer Verschwörungstheorie gehört hat, die ganz ungeheuerlich ist: Atommüll in den Osten. Im Eiltempo (siehe die „Verschwörung“ auf der nächsten Seite).

Aber Castoren passen doch nur auf schwere Züge und nicht auf leichte, die unter der Alb nur fahren können. Nein, hinterm Horizont muss es irgendwie anders weitergehen.

Beim luftigen Blick nach Stuttgart schiebt sich die mächtige Kirche St. Laurentius ins Bild. Und die dazu gehörende Stadt am Neckar: Nürtingen. Hier lebte – oder litt? – der Dichter Hölderlin als junger Mensch, brach immer wieder aus der Enge aus. Hier ging und dachte ihm der Schriftsteller Peter Härtling nach. Hier übte Harald Schmidt früh schon als Pubertätslackel, sinnigerweise im Hölderlin-Gymnasium, seinen Spaß am Spott, vorzugsweise an Lehrern und Mitschülerinnen. Und hier, in seinem Wahlkreis, lernte und studierte Winfried Kretschmann die Bürgerbeteiligung am lebenden Objekt, wie er heute als Ministerpräsident gern und oft erzählt. Nürtingen ist bereits seit den Neunzigerjahren eine Vorzeigestadt in Sachen bürgerschaftlichem Engagement, dekoriert mit Bundespreisen. Mehr als die Hälfte der rund 40.000 Einwohner sind ehrenamtlich im Einsatz, sehr viele im sozialen Bereich. Herz der vielfältigen Initiativen ist der lokale Bürgertreff. Dessen langjährigem Leiter Hannes Wezel sind Wurzel-Projekte besonders wichtig, Partizipation und Engagement von der Basis.

Well London: Bürger als Statisten

Beim Denk-Ausflug auf hoher Warte drängen sich andere Bilder und Szenen in den Sinn, jenseits des Teller- und Kesselrands. In den vergangenen Monaten waren wir mit Hannes Wezel auf Europa-Tour gegangen, um Projekte und Formen von Bürgerbeteiligung in anderen Ländern zu recherchieren. Und soziale Realitäten. Eine Station war London – bevor es in tristen Brennpunkt-Stadtteilen wie Hackney brannte und marodierende Jugendliche Läden plünderten.

Wir waren im Frühjahr in Hackney, dem nördlichen Stadtbezirk mit 100.000 Einwohnern, der buchstäblich im Schatten der glitzernden City liegt, nur etwa zwanzig Underground-Minuten davon entfernt.

Lange war Hackney das ärmste Armenhaus Londons. Inzwischen gibt es auch hier Ecken mit schmucken Klinkerhäusern, doch immer noch dominieren graue Straßenzüge mit maroden Mietskasernen das Viertel. Immer wieder schrillten Polizeisirenen. Drogen, Prostitution, Schlägereien zwischen Banden, zu denen auch Jugendliche gehören. Vergangene Zukunft.

Beim Gang durch Hackney zeigte der Bürgermeister auf einen Neubau mit Geschäften und Wohnungen, die gerade hochgezogen wurden. Dann deutete er auf breitrissige Häuserruinen mit blinden Fenstern und verrammelten Türen. „Unser Ziel ist es, dass die armen Menschen, die hier leben, in dieses neue Ortszentrum umziehen können.“ Man konnte es sich kaum vorstellen.

Heute mutet es geradezu grotesk an, dass smarte Londoner Stadtmanager uns damals ausgerechnet in dieses Viertel gekarrt hatten – um ein „sehr erfolgreiches Projekt von Bürgerbeteiligung„ zu präsentieren, wie sie im Brustton der Überzeugung sagten. Im Londoner Rathaus hatten sie zuvor den Beamer angeworfen und den Film zum Großprojekt gestartet: „Well London“ – eine Metropole verbessert die körperliche und mentale Gesundheit ihrer Bevölkerung. Man sah Menschen aus 20 verschiedenen Stadtbezirken tanzen, rudern, kochen, essen, malen oder Musik machen. Bereitwillig erzählten Teilnehmer, wie gut ihnen das „Cook-and-eat-Projekt“ gefallen habe. Die Projektleiterin erzählte danach stolz, in 20 von 33 Stadtbezirken habe man zunächst „Community Cafés“ eingerichtet, um die Bürger an einen Tisch zu bringen. By the way: im kleinen Nürtingen gibt es eine solche Einrichtung schon seit 20 Jahren.

„Well London“: ein Hochglanzprojekt von oben, für satte zehn Millionen Pfund. Als es die smarten Londoner Stadtmanager präsentierten, hatte die Verwaltung gerade ambitionierten Vor-Ort-Initiativen engagierter Bürger das Geld gestrichen. Der rigide Sparkurs der Cameron-Regierung schlug da schon mächtig durch. Insbesondere im sozialen Bereich.

Am Ende gab es die „Well London Hackney Road Show“ zu sehen. Sie fand in der örtlichen Bücherei des Problembezirks statt – das Community Café gab es bereits nicht mehr. Lokale Teilnehmer des Gesundheitsprojekts, darunter etliche Jugendliche, traten auf eine Bühne und schwärmten von ihren Erfahrungen: „Es ist so schön, zusammen etwas zu machen.“ Den Projektmanagern von „Well London“ wurde artig applaudiert. Man sang gemeinsam fröhliche Songs, man tanzte. Und man aß. Blicke aus grauen Gesichtern ließen ahnen, dass einige nur deswegen zur „Road Show“ gekommen waren.

Als über der britischen Metropole der Abend hereinbrach, bauten die Menschen von Hackney die pittoresken Kulissen wieder ab. Von den Chefs von „Well London“ gab's ein Dankeschön für die schöne und gelungene Vorstellung. Dann packten die „Well London“-Darsteller ihre Sprechzettel und Musikinstrumente zusammen und gingen nach Hause. Zurück in ihre morbiden Mietskasernen. Zurück in die vergangene Zukunft.

Inzwischen hängt der Himmel über dem Hohenneuffen voller bunter Vögel. Gleitschirmflieger nutzen die Thermik am Albtrauf, um sich hochzuschrauben und über das Land zu schweben, höher, immer höher. Ist nicht der Bahnhofs-Schlichter von Stuttgart auch ein passionierter Gleiter? Oder doch eher ein waghalsiger Drachenflieger? Und ist Heiner Geißler nicht auch einmal schwer abgestürzt? Nein, wir wollen hier oben die Gedanken ja weiter schweifen lassen, raus aus dem Stuttgarter Kessel, rein in die Welt.

Dort wo die Gleitschirmpiloten starten, hinter der Alb-Nase, die sie zum Absprung nutzen, weiter Richtung Süden liegt der Deutschen Sehnsuchtsland. Italien. Dort regiert seit gefühlten Jahrhunderten ein Ministerpräsident, der Gesetze nach dem eigenen Vorteil verabschiedet und es bisher trefflich geschafft hat, nicht belangt zu werden für seine schrägen Touren. Nun hätte Silvio Berlusconi die Chance, mal zu zeigen, dass er sich nicht nur um die eigenen Milliarden kümmert, sondern auch mit den Milliardenschulden Italiens umgehen kann, die sich nicht zuletzt während seiner Amtszeit angehäuft haben.

Italien ist tief in den Sog der Schuldenkrise geraten. Im Juli erst fand der italienische Finanzminister Giulio Tremonti endlich Gehör, und die Regierung in Rom beschloss ein Sanierungspaket von 48 Milliarden Euro. Vergangenen Freitag, nur wenige Wochen später, wird klar, dass das nicht reicht. Berlusconi verkündet zusätzliche Einsparungen in Höhe von 45 Milliarden Euro in den Jahren 2012 und 2013. Der Ruhestand soll später beginnen, Dörfer und Provinzen sollen fusioniert werden, und Kritiker fürchten, dass vornehmlich bei den Sozialausgaben gespart werden soll. Sie werden wohl recht haben. Übrigens: S 21 wird auf mindestens 4,5 Milliarden Euro taxiert.

Milliarden-Monopoly: Und raus bist du

Von den Burgmauern des Hohenneuffen ahnt man Italien im Dunst hinter der Schwäbischen Alb. Der dort oben, der grün-gelbe Gleitschirmflieger, sieht weiter. Über die Achalm hinweg, über den Rossberg mit seinem Aussichtsturm hinaus, nach Westen, Richtung Frankreich.

Denn Italien ist nicht allein. Ganz Europa steckt in der Schuldenkrise. In Paris traf man sich jetzt, am 16. August, einmal mehr, um gemeinsam Wege aus der Finanzkrise zu finden. Von Schicksalsgemeinschaft ist die Rede, es gilt, Staaten vor dem Bankrott zu bewahren, den Euro zu retten. Es erwischt ein europäisches Schuldenland nach dem anderen, Griechenland, Irland, Portugal, nun auch Spanien, Italien und sogar Frankreich. Die Zocker an der Börse spielen Monopoly mit ganzen Staaten. Es gehe zu wie im Auszählreim, schreibt die Süddeutsche Zeitung, „…und raus bist du“. Sechs europäische Länder haben nun Leerkäufe verboten. Doch wie wird der Finanzkrieg zwischen Politik und Spekulanten ausgehen?

Der Gleitschirmflieger fliegt engere Kreise, verlässt die luftigen Höhen, die freie Sicht, sinkt langsam nach unten. Bald fliegt er unter den Zinnen des Hohenneuffen entlang, die Besucher können ihm von oben auf die Flügel spucken. Ein vorwitziger Falke folgt ihm eine Weile.

Bevor wir wieder auf heimischem Boden gelandet sind, noch einen kurzen Blick wenigstens. Noch weiter weg vom Stuttgarter Kessel, über Italien hinaus weiter südlich bis hinein nach Afrika, wo sich eine furchtbare Hungerkatastrophe anbahnt in den Dürregebieten Somalias, Äthiopiens, im Norden Kenias. Hunderttausende Flüchtlinge, hungernde Kinder, Bürgerkriegsflüchtlinge, Wüste, Skelette.

Der Gleitschirmflieger ist auf der grünen Wiese am Rand von Neuffen gelandet. Er packt seinen bunten Schirm ins Auto. Von hier oben ist nicht zu erkennen, ob er einen K-21-Sticker dran kleben hat.