Das Schlagen kleiner Flügel

Beschwörung der Geister: Antonio Paucar braucht nicht viel – ein paar Nüsse, ein paar Pollen – um der Fantasie weite Räume zu öffnen. Von seiner Heimat Peru erzählt seine erste Ausstellung

VON HENRIKE THOMSEN

Es klingt, als säße ich in einem dichten Fliegenschwarm mitten in der Nacht. Es summt und schwirrt um meinen Kopf, weiter entfernt scheint anderes Getier in der Dunkelheit zu rascheln und zirpen. Der starke süßliche Duft von Kakao weht heran, dann der von frischer Minze. Etwas Pelziges schlüpft durch die Finger. Erinnerungen kommen auf: an die Nachtwanderung auf einer Klassenfahrt vor dreißig Jahren, bei der der Lehrer die Taschenlampe im Wald verlor; an den Hamster, der sich eines frühen Morgens im Wäscheschrank fand; an eine Reportagereise nach Afghanistan.

Fantasien kommen dazu, Urwaldfantasien natürlich, aber auch die Frage, ob ich vielleicht auf irgendeinem seltsamen Weg auf das Set des Dschungelcamps geraten bin und als nächstes eine Schlange um den Hals gelegt bekomme.

„Finish“, sagt eine leise Stimme und lässt mich in das Atelier zurückkehren, in das Antonio Paucar mich eingeladen hat. Der 34-jähige gebürtige Peruaner sitzt am Boden zwischen den schlichten Geräten, mit denen er die wundersamen Klänge und Erfahrungen produziert hat: Gläser, Schläuche, selbst gebaute Bögen, eine Schüssel mit Nüssen und Trockenobst, Zweige, eine Wollmütze. Er lächelt etwas schüchtern und zweifelnd. Als er die Klangrecherchen bei seinem Studium an der Universität der Künste begann und die Performance daraus entwickelte, war sein Professor Lothar Baumgarten anfangs irritiert – und die Prüfungskommission geriet ein bisschen aus der Fassung. Schließlich aber seien alle begeistert gewesen, besonders seine zweite Professorin Rebecca Horn, erzählt er.

Zwei Jahre nach seinem Abschluss hat Paucar jetzt seine erste Einzelaustellung in der Galerie Davide Gallo, in der neben Videos zwei erstaunliche Rauminstallationen zu sehen sind: eine abstrakte Skulptur aus tausenden Pusteblumensamen und eine überlebensgroße menschliche Silhouette, die aus hunderten toter Fliegen geknüpft ist.

Viele von Paucars Arbeiten erhalten ihre Form eher nebenbei wie die Flugpollen, die er in einer Plastiktüte sammelte und einfach so beließ, wie sie sich in der Tüte zusammengeballt hatten. Andere sind das Ergebnis einer langen formalen Entwicklung wie der Fliegenmann. „Als ich ein Jugendlicher war, geriet unser Dorf in den Kampf der Rebellen vom Leuchtenden Pfad und der Regierung. Es gab anonyme Morde und eines Tages entdeckte ich die Leiche eines Mannes. Nach drei Tagen waren seine Schuhe verschwunden, dafür gab es immer mehr Fliegen“, erzählt Paucar. Immer wieder hat er überlegt, wie er diese Erinnerung aus seiner Kindheit in Huancayo verarbeiten könnte, bis er, der auch das Imkerhandwerk gelernt hat, sich zeitweilig auf die Zucht von Stubenfliegen verlegte und die Tiere nach dem Absterben aufsammelte.

Unter der Silhouette, deren Kopf zu explodieren scheint, stehen heute in der Galerie ein paar große Schuhe. Doch auch ohne Paucars persönliche Geschichte zu kennen, setzt dieser Anblick die Verletzlichkeit des Menschen ins Bild, nicht nur durch äußerliche Gewalt, sondern ein ganz kreatürliches, evolutionäres Ausgeliefertsein.

In einem Performance-Video tanzt der Künstler mit Wunderkerzen, die an ihm befestigt sind, in der Dunkelheit. Sein Körper scheint wie ein scharf umrissenes schwarzes Loch inmitten tanzender Sterne. Diese Art, sich von den Rändern zu nähern, gleichsam von den fragilen Grenzen der Existenz, ist für Paucar charakteristisch. Es geht ihm darum, die Selbstwahrnehmung zu erweitern und er vermeidet eindeutige Bilder zugunsten eines erweiterten, synästhetischen Ansatzes. Auf die Frage nach der spirituellen Dimension und möglicherweise zu Grunde liegenden Ritualen aus seiner Heimatkultur reagiert er vorsichtig. Er weiß, dass in der breiten Öffentlichkeit der Ausstellung und des Marktes seine Arbeit unversehens erneut auf dem Prüfstand steht. Und da in ihrem Zentrum Naturerfahrungen und ganzheitliche Körperwahrnehmungen stehen, fürchtet der Sohn einer Mestizenfamilie: „Es besteht die Gefahr, dass man mich in die Ecke von Folklore oder indigener Kunst stellt.“

Doch die Gefahr ist gering. Viel eher ist in Paucars Arbeiten ein Bezug zur (westlichen) Performance-Kunst und Land Art zu erkennen, und die Nähe zu Rebecca Horns zerbrechlichen, poetischen Arbeiten und zu Lothar Baumgartens Recherchen zu Landschafts- und Kulturräumen ist unübersehbar. Mit seiner Familie, die in Peru eine traditionelle Schnitzerwerkstatt betreibt, kann er sich dagegen über seine Kunst schlechter austauschen als in Berlin, sagt er.

Die Schallwellen von Flügelsummen und Grillenzirpen, so hat Antonio Paucar bei seinen Klangrecherchen gelernt, sind fein, aber sie reichen besonders weit. Es ist zu wünschen, dass es seiner Kunst ebenso gehen wird.

Antonio Paucar: „Memorias de un viaje“, Galerie Davide Gallo, Linienstr. 156, Di.–Sa. 14–19 Uhr, bis 23. September