Zeugnis der technischen Moderne

Seit Mai gibt das Museum Alte Gießerei einen Einblick in die Industrialisierung Kiels im ausgehenden 19. Jahrhundert – und ihre menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen. Möglich war der Neuzugang zur örtlichen Museumslandschaft nur durch geduldige Initiatoren und viele Ehrenamtliche

AUS KIEL FRANK KEIL

Sie sind nicht mehr zu übersehen, die Kreuzfahrtschiffe im Kieler Hafen am dafür eigenen Terminal auf dem Westufer: weiße, polierte Kästen, eher Hochhäusern gleich als ordentlichen Schiffen mit spitzem Heck und rundem Bug und von ganz anderem Kaliber als die Fähren Richtung Oslo und Göteborg. Nun sind die meist gut betuchten Kreuzfahrer dabei, sogar die Kieler Museumslandschaft zu beeinflussen: „Aufgabe ist es, die Schiffsgäste in der Stadt zu halten“, heißt es in einem Planungsvorschlag der finanziell notorisch klammen Stadtverwaltung für die Neuausrichtung der Museen, das derzeit unter den örtlichen Kulturinteressierten für heftige Diskussionen sorgt.

„Hin zum Wasser“, heißt daher die Parole. Nicht überraschend auch, dass mit Blick auf die zuletzt 155.000 Kreuzfahrgäste und die mehr als 1,3 Millionen Fährgäste auf einen Publikumsmagneten gesetzt wird, wie er derzeit überall als Lockmittel hoch im Kurs steht: einen noch zu errichtenden „Science Center“. Was zugleich eine definitive Absage an bisherige Pläne eines künftigen „Historischen Zentrums“ bedeutet, wie es die private „Kulturoffensive Kieler Altstadt“ lange im Einklang mit städtischen Stimmen anvisiert hat. Auf einer hinter dem Stadtmuseum gelegenen freien Fläche sollte demnach ein Neubau errichtet werden, um den Kieler Altstadtkern nicht nur museal zu bereichern. Die Kulturoffensive hat sich sogleich aufgelöst, immerhin soll das von ihr bisher zusammengetragene Stiftungskapital von 500.000 Euro nicht zurückgegeben werden, sondern in die Arbeit des Stadtmuseums und des Schifffahrtsmuseums einfließen.

Die Initiatoren und Betreiber des Museums Alte Gießerei dürften das alles mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Siedelt das Haus doch auf der anderen Seite der Förde, dem Ostufer – einer Region, der in Kiel ohnehin der Nimbus des Abgeschiedenen und lange auch des Verlorenen innewohnte. Geöffnet ist das Haus ausschließlich am Sonntagnachmittag, geleitet und betreut wird es allein von Ehrenamtlichen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass es das Gebäude überhaupt noch gibt. Denn weder die Stadt Kiel noch das Land Schleswig-Holstein haben auch nur einen Pfennig beziehungsweise Cent in dieses Museum investiert.

Die leicht ergraute, aber stets gut gelaunte Crew um den Architekturprofessor Peter Hense schüttelt einerseits die Köpfe über solche Borniertheit, zugleich aber ist in ihren Mienen unverhohlener Stolz zu lesen: So schwierig es auch war, wir haben es trotzdem geschafft. Immerhin: Dem Nachteil, alles aus eigener Kraft stemmen zu müssen, steht die Unabhängigkeit von den Unwägbarkeiten städtischer Museumspolitik gegenüber.

Die Geschichte der Gießerei beginnt, als die Howald-Werke im geradezu bäuerlichen Dietrichsdorf an der Mündung der Schwentine ab 1884 Bauteile für ihre Schiffe fertigen lassen wollen: vom Bullauge über die Kompasseinfassung bis hin zu Hebeln, Ventilen, Verschlüssen und nicht zuletzt Rohrleitungen aller Art – alles eben, was besser aus einem Stück gegossen wird. Für den Bau einer entsprechenden Gießerei samt Öfen und Werksräumen wird der Semper-Schüler Heinrich Moldenschardt engagiert, der einen so zweckmäßigen wie repräsentativen Bau errichtet.

„Sie sehen anhand des Schornsteins mit seinem breiten Sockel“, sagt Peter Hense und bittet die heutige Besucherschar, einen Schritt zurückzutreten, „dass man sich damals an der Form der Kathedrale orientiert hat, so wie auch die ersten Autos aussahen wie Kutschen.“ Das Museum möchte daher nicht allein für sich stehen, sondern zugleich auf die idealtypische Industrialisierung eines Landstrichs verweisen, mit dem die technische Moderne nach Kiel kam.

Fast 100 Jahre lang bringen die erst mit Koks, dann mit Öl befeuerten Öfen Kupfer, Messing, Zink und Blei zum Schmelzen. Die schweren Bombardierungen Kiels übersteht die Gießerei nahezu unbeschadet. 1980, als sich die bundesdeutsche Werftenkrise weiter zuspitzt, wird das Werk geschlossen. Einige Jahre lang rottet das Gebäude vor sich hin. Das Ende scheint besiegelt, als die Stadt das Werftengelände aufkauft und Gebäude für Gebäude abreißt. Nur die Gießerei mit ihrem Schornstein bleibt stehen – Putz und Mauerwerk sind von den Schwermetallablagerungen geradezu durchtränkt.

Kurz geht die Idee um, das Gebäude Stein für Stein abzutragen, um es anderen Ortes für ein nie realisiertes Museum für Industrie und Alltagsgeschichte wieder aufzubauen. Zeitgleich gründet sich eine örtliche Museumsinitiative, getragen von Architekten und Historikern, aber auch ehemaligen Arbeitern, für die die Gießerei generell einen Lebensmittelpunkt darstellte. Schließlich springt die Deutsche Stiftung für Denkmalspflege ein, später können auch EU-Mittel gewonnen werden.

Im Mai ist das Haus fertig hergestellt worden und bietet in gut 90-minütigen Führungen einen Überblick über die technischen Abläufe, aber auch über die Arbeitsorganisation der Gießerei. „Heute lagert man alles aus“, erzählt Dense dann, „damals war nichts wichtiger, als alle Produktionsvorgänge an einem Ort zu vereinen.“ Die Museumsleute verschweigen dabei nicht den enormen Lärm, der hier geherrscht haben muss. Sie weisen auf die ebenso drastischen Temperaturen hin, wenn zwei- bis dreimal die Woche die Öfen angeheizt wurden, um Temperaturen von 1.300 Grad Celsius zu erzielen.

Und sie erzählen den Besuchern auch, wie sehr die Arbeiter von ungesunden Metalldämpfen umhüllt wurden – weshalb allein beim Gießen der bleiernen Trimmgewichte für die HDW-U-Boote es eher die Regel denn Ausnahme war, dass sich die Arbeiter noch an ihrem Arbeitsplatz übergeben mussten. „Sicherheitsbestimmungen hat es hier lange in keiner Weise gegeben“, sagt Peter Hense: „Als Ausgleich für die Dämpfe bekamen die Arbeiter jeden Tag einen Liter Milch zu trinken.“ „Nichts für Stubenhocker. Nur für echte Jungens“: Mit diesem Slogan warb das Kieler Arbeitsamt noch 1949 für den Beruf des Formers, der in Handarbeit die jeweiligen Gussformen herstellte. Und Hense berichtet, wie verwundert die ehemaligen Arbeiter waren, als jahrelang das stillgelegte Gebäude wegen der Kontamination mit Schwermetallen wie ein rohes Ei behandelt wurde – ihnen hatte man das selbstverständlich ein Arbeitsleben lang zugemutet.

Von drüben, von der anderen Fördeseite, erschallt ein langes Tuten. Einer der schwimmenden Kästen ruft seine Fahrgäste herbei. „Im Prinzip“, sagt Hense, „wird all das, was sie im Innenraum eines heutigen Schiffes an Armaturen, Leitungen und Verbindungen vorfinden, heute noch immer so hergestellt, wie wir das eben gezeigt haben.“

Museum Alte Gießerei, Grenzstraße 1, Kiel-Dietrichsdorf. Geöffnet Juni bis Oktober jeweils sonntags 14–17 Uhr. www.alte-gießerei-kiel.de