Mit Sturmowka gen Osten

REISEFIEBER DDR-Bürger reisten in den 70er und 80er Jahren illegal durch das Gebiet der Sowjetunion

■ Bücher: Jörg Kuhbandner und Jan Oelker (Hrsg.): „Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion“, Notschriften-Verlag, Radebeul 2010, 576 Seiten, 29,90 Euro; Cornelia Klauß und Frank Böttcher: „Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich“, Lukas Verlag, Berlin 2011, 444 Seiten, 24,90 Euro

■ Die Ausstellung: bis 9.Oktober im Berliner Mosse Palais (Europasaal), Voßstraße 22

■ Weitere Angaben und Termine: www.unerkanntdurchfreundesland.de

VON BARBARA KERNECK

Im Elbrus-Gebirge trafen wir ein Pärchen aus Potsdam, Ulrich und Rizzi. Er war Leichenredner, eine ganz schillernde Person. Er hatte sich selbst ein Schreiben verfasst, dass er als Vorsitzender der Sektion Bergsteigen Turbine Potsdam von seiner Sektion delegiert sei, den Elbrus, den König des Kaukasus, zu erklimmen und dort einen Wimpel der Freundschaft zu hissen. Und dieses Schreiben hat uns dort Tür und Tor geöffnet, war abgestempelt mit zehn, zwölf Stempeln von seinem Leibarzt bis zur Betriebsleitung und damit waren wir öffentlich.“

Die im Dokumentarfilm „Unerkannt durch Freundesland“ von Cornelia Klauß geschilderte Ausgangssituation ist absurd genug. Doch die Absurdität steigt buchstäblich an, als das Grüppchen illegal in der UdSSR herumreisender DDR-Jugendlicher sich dem Gipfel nähert. Sie geraten in eine „Elbrusiade“, eine feierliche Elbrus-Besteigung örtlicher Prominenter zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Beim Hissen ihres eigenen Wimpels werden sie vom Sowjetfernsehen interviewt.

Der 2006 entstandene Dokumentarfilm stützt sich auf Schmalfilme und Fotos von diesen und anderen DDR-Bürgern auf ähnlichen Trips in den 70er und 80er Jahren.

Heute hat das Thema die Medien in ganz Deutschland erfasst. Eine Ausstellung zum Thema „Unerkannt durch Freundesland“ wurde wegen großer Nachfrage am 26. August noch einmal in Berlin eröffnet.

Schon 2010 hatte man einige Monate lang in Berlin-Marzahn diese Reisetrophäen, Schmalfilme, Audioaufzeichnungen und Fotos bewundern können, mit denen einstige DDR-Bürgerihre illegalen Reisen durch das Gebiet der einstigen Sowjetunion dokumentierten. Im selben Jahr erschien das aus entsprechenden Erinnerungen komponierte Buch „Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion“. Die ungewöhnlichen Aufzeichnungen erhielten prompt den Globetrotter-Preis als bestes Reisebuch des Jahres 2010.

Im Frühjahr dieses Jahres ist nun ein weiterer, umfassenderer Sammelband auf den Markt gekommen: „Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich“. Er erntet überschwengliche Rezensionen. Bei einer Autorenlesung aus dem Buch im Potsdamer Waschhaus musste vor dem Andrang die Tür geschlossen werden.

Gerade in dem Alter, in dem Jugendliche die größte Reiselust packt, war für junge Leute in der DDR der Westen unzugänglich. Doch auch gen Osten kamen sie nur schwer voran. Vor allem den ganz großen Bruder konnte man nur bedingt kennenlernen, am ehesten im Rahmen einer streng bewachten Reisegruppe. Private DDR-Gäste durften sich die Einheimischen bei Weitem nicht in alle UdSSR-Orte einladen. Entfernte sich der Besuch dann mehr als 50 Kilometer vom jeweiligen Stadtzentrum, bekamen die Gastgeber große Schwierigkeiten, wenn das entdeckt wurde.

Doch wo ein Wille war, da war auch ein Schlupfloch. Als Schlüssel zum Sowjetabenteuer dienten meist Transitvisa in andere Ostblockstaaten: zum Beispiel aus der DDR über die UdSSR nach Bulgarien. Vermutlich Tausende von Transitniks, wie sie sich selbst nannten – eigentlich nur zu einer dreitägigen Durchfahrt berechtigt – blieben dann wochenlang. Da das Buchen von Flug- und Bahntickets für Individualreisende Schwierigkeiten mit sich brachte, trampten sie oft, bewegten sich mit dem Überlandbus weiter, mit dem Fahrrad, dem Katamaran und in einem Fall sogar abenteuerlich mit dem Eissegler.

Manche Transitniks hatten ihr Visum selbst gefälscht. Nach einem beklemmenden Moment an der Grenze taten sich für deren Inhaber jedoch unermessliche Weiten auf: elf Zeitzonen, dazu Klimagürtel von der Arktis bis in die Subtropen. Bei seiner Privatexpedition auf die für Ausländer gesperrte Halbinsel Kamtschatka brachte es einer auf den Punkt: „Jetzt sind wir so weit im Osten, dass wir schon fast wieder im Westen sind!“

„UdF“, die Abkürzung für „Unerkannt durch Freundesland“, lautete schon in der DDR der Slogan dieser kleinen und naturgemäß diskreten Szene. Möglich wurden diese Reisen auch dadurch, dass sich die sowjetische Mentalität wesentlich von der deutschen unterschied. Wenn zum Beispiel ein sowjetischer Beamter mit Tellermütze irgendein Dokument verlangte, erwartete er meist nur, ein halbwegs plausibles Papier hingestreckt zu bekommen. Die Echtheit wollte er gar nicht so genau prüfen. Es hätte ja von irgendeinem seiner Vorgesetzten gefälscht und verkauft worden sein können. Und noch eine Erfahrung ließ die DDR-Traveller eventuelle Ängste vergessen: Immer konnten sie sich auf die fast erstickende Gastfreundschaft einfacher Russen, Georgier oder von Angehörigen anderer Völker in der Sowjetprovinz verlassen.

Als Schlüssel zum Sowjetabenteuer dienten meist Transitvisa in andere Ostblockstaaten

Das Leben hat hier die schönsten Geschichten geschrieben, voller Momente, bei denen der Atem stockt. Beide Bücher zum Thema sind dicke, spannende, reich illustrierte Schmöker. „Transit“ handelt von der Eroberung der Berggipfel und extremer Klimazonen sowie der Vorbereitung darauf. Hier lernt man, wie man sich einen Eispickel schmiedet. In „Unerkannt durch Freundesland“ kommen auch Reisende zu Wort, die eher geistige Abenteuer suchen.

Wie der Berliner Eckehard Maass bei sowjetischen Dichtern und Dissidenten, der Thüringer Pfarrer Gernot Friedrich, wenn er bei in der Stalinzeit versprengten russlanddeutschen Gemeinden in Sibirien aus einem Faltbeutel Bibeln verteilte. Spätestens in diesen Kapiteln wird klar, dass nicht alle Haschmichspielchen im sowjetischen Raum so glimpflich endeten wie die bei der Rückkehr fast regelmäßig „übersehenen“ Verstöße der Traveller gegen die Visaregeln.

Eine wertvolle Hilfe für Leser steht ganz am Ende: Von Anorak bis Zentralrat – kleines ABC des sowjetischen Tourismus. Unter denselben Worten verstand man damals oft etwas ganz anderes als heute. Ein Anorak zum Beispiel wurde meist selbst vom Reisenden gefertigt und kombiniert mit einer entsprechenden Hose zur „Sturmowka“, zum Sturmanzug.

Die UdF-Akteure sind heute vom Erfolg ihrer Erinnerungen freudig überrascht. Er bestätigt sie in dem Gefühl: Mensch, waren wir toll!

Ihnen scheint, dass die beiden nicht mehr existierenden Länder jetzt ein wenig differenzierter betrachtet werden: das aus dem sie reisten und das in dem sie reisten. Damals waren sie um viele Illusionen ärmer geworden. Im Kaukasus, in Mittelasien, hatten sie erkannt, wie sehr Religion und ethnische Zugehörigkeit die Menschen immer noch voneinander trennen. Aber sie wurden auch innerlich freier. Ein altes russisches Sprichwort besagt: Das Gesetz steht wie ein Pfahl, man kann es nicht überspringen, aber man kann es umgehen. Darum herumreisen konnte man auch.