Ein magisches Feld

Die Kritik am Holocauststelenfeld in Berlin will nicht enden. Jetzt geht es um Risse im Beton. Mit Verlaub: Na und?

Das Feld nimmt sich aus wie in den beiden vorigen Jahren auch um diese Zeit: Es wimmelt dort nur so von freundlichen Menschen, die hindurchbummeln. Einen sah ich jüngst, der versah seinen Spaziergang in die abgesenkte Mitte dieses Objekt zunächst mit einer Umrundung des Parcours, sie hat ihn eine halbe Stunde gekostet. Alle finden es nach wie vor gut, so wie Kanzler Schröder es einst weissagte: „Da geht man gern am Wochenende mal hin.“ Hier wird also über das Holocauststelenfeld berichtet – und zwar als Immobilie der ewigen Suche nach Besinnung, sozusagen.

Und daran hat auch das Gerede, ja das Geraune um die Substanz seiner Einrichtungsgegenstände neulich nichts geändert. Beispielsweise über die graffitobeschmierresistenten Betonteile, die Risse aufweisen – manche wollten in der Zahl sogar kabbalistisch eine geheime Botschaft des Architekten Peter Eisenman lesen: Hat es eventuell etwas besonders Tragödisch-Zeichenhaftes zu bedeuten, dass von 2.700 Stelen knapp ein Sechstel vor sich hinmarodiert? Die Rede ist vom mächtigen Erinnerungsparcours am Brandenburger Tor, dem Holocauststelenfeld, und wie eh und je seit den tremolierenden Reden vor zwei Jahren ist es für Touristen – einheimische wie auswärtige – ein beeindruckendes Stück Magie.

Man geht hin, wandert hindurch, bestaunt – wie es mir geht – die kleinen Birkchen und Grünpflänzchen überhaupt, wacht über die Akkuratesse der Anordnung, hofft, so einem eine Schrebergartenseele eigen ist, auf beflissene Gärtner, die das Unkraut aus den Ritzen der Bodenplatten ziehen mögen, es soll ja nicht die Strenge der Architektur aufweichen. Und die tapfere, wehrhafte, nun ja, antifaschistische Fantasie verordnet auch diese Idee: Den ersten Neonazi, der abgründig Böses zu kritzeln anfinge, den würde man heldenmutig an die Polizei ausliefern, „Wehret den Anfängen!“ rufen und sich innerlich belobigen!

Das Schöne an diesem Holocauststelenfeld ist vor allem, dass es überhaupt so und nicht anders existiert. Alle Prophezeiungen, dass es das Innere der Hauptstadt vergifte, dass es an die Schuld der Deutschen zu heftig erinnere, sich generell nicht harmonisch einfüge in das Setting dieses Teils von Berlin, sind hinfällig. Greinendes Gemurmel, das sich selbst blamiert hat. Und nur selten sieht man Schulklassen, deren pädagogische Betreuer allzu emsig das Naheliegende zu erklären suchen.

Eisenman sagte, aus seinem Firmensitz in New York überliefert, zu den bauschadhaften Rissen nur, es sei doch klar, dass Architektur verfalle und von Wind und Wetter mitgenommen werde. Hübsch, diese Einwände. Der jüdische Inspirator dieses Stadtmöbels ist ohnehin der Coolste von allen. Sorgt sich nicht, nicht um Klimatisches, Nazistisches, Apokalyptisches, sonstwie Drohendes. Hat einfach nur den Einfall zu diesem Stelenfeld zu Papier gebracht, mit ihm den Wettbewerb gewonnen – und gibt nun kund, er habe seine Arbeit getan, nun sei es an der Zeit, sein Werk der Zeit und ihren Umstände zu überlassen.

Wir Touristen, die in dieses Quartier der Stadt gehen, weil es eben keinen Kiez, sondern nur Repräsentationsadressen hat, wir Ausflügler sehen und staunen und finden es übrigens auch hübsch. Anthrazitfarbener Beton hebt sich fein von der wuchtigen Ziseliertheit der benachbarten Bauten ab. Jedenfalls können wir mit gellender Antifa-Betulichkeit sowieso nicht so viel anfangen, nehmen das Ding, wie es sich möglicherweise gehört: mit Bedacht. Nutzen die niedrigen Stelen als Bänke und gucken zu, wie die hohen Stelen junge Menschen zum Hopping einladen – was denn sonst. Dafür scheinen sie doch da.

Risse habe ich noch keine bemerken müssen, sie sollen aber garantiert da sein. Mein Freund will sie partout als Menetekel nehmen, allein schon, weil er solche liebt, so wie er das Stehenbleiben des Weckers neulich auch für ein Menetekel hielt, das Leben mal sachter anzugehen. Das Holocauststelenfeld lebt, weil wir allen mahnenden Sinn nicht mögen müssen. Das scheint seine eigentliche Attraktivität zu sein: herzerweichend!

JAN FEDDERSEN über PARALLELWELTEN

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