Ringen um Platz

Gesichter fluten über das Papier und bedrängen sich in den Zeichnungen von Lisa Jonasson. Die Stipendiatin des Künstlerhauses Bethanien kommt aus Schweden. Ein Porträt der jungen Künstlerin

VON HENRIKE THOMSEN

Lisa Jonassons Zeichnungen wirken, als gäben sich griechische Vasenfiguren, afrikanische Masken und aztekische Skulpturen im Vorlagen-Buch eines Tätowierladens ein rauschhaftes Rendezvous. Gesichter reduziert sie essenziell auf Auge, Nase und Mund; Körper zeigt sie nackt und dynamisch, mal schmerzverzerrt, mal duldsam. In einer ornamentalen Vision fluten sie über das Papier, gleichzeitig verschlungen und losgelöst, sämtliche Konturen, Blick- und Bewegungsachsen ineinander verflochten. Vorder- und Hintergrund verlieren sich im rhythmischen Schwarz-Weiß der Tusche-Zeichnung. Der Bildraum scheint von einer Emanation erschüttert und verrückt.

Vielleicht ist es ein kosmischer Wirbel, vielleicht die ungefilterte Fantasie eines fiebrigen Gehirns. In jedem Fall geht eine mitreißende Energie von diesen Zeichnungen aus, die Lisa Jonasson zum Ende ihres einjährigen Stipendiums im Berliner Künstlerhaus Bethanien ausstellt; ein Gefühl von Aufbruch, ein Versprechen auf mehr.

„Für mich war Berlin wie eine Insel. Ich konnte endlich einmal fort von dem üblichen Kunstbetrieb zu Hause und experimentieren“, sagt die 28-Jährige beim Rundgang durch ihr Studio und den Ausstellungsraum. Seit Oktober hat sie hier im Rahmen des Internationalen Atelierprogramms gearbeitet. Bald geht es zurück nach Stockholm, wo sie 2004 ihren Master an der Königlichen Akademie der Schönen Künste machte und seither in vielen, für ihren Geschmack vielleicht sogar zu vielen Einzel- und Gruppenausstellungen in Schweden zu sehen war. „Ich habe immer unter Zeitdruck auf die nächste Schau hingearbeitet und konnte mich kaum freimachen“, sagt sie.

Zu kurz kam dabei ihr Interesse, die Funktionsweisen der menschlichen Wahrnehmung, die neurologischen Prozesse um die Entstehung von Bildern und Worten komplexer auszuloten. In ihren ersten Ausstellungen konzentrierte sich Jonasson aber vor allem auf die Ebene der Schrift. Provokative, mehrdeutige Sprüche in großformatigen, quietschbunten Installationen: Agit-Prop-Kritik an Werbeslogans, Machophrasen und latenten Rassismen. Die Nähe zu Künstlerinnen wie Jenny Holzer und Barbara Kruger sei ihr erst später bewusst geworden, sagt sie.

Zwischen 2001 und 2005 gab die da noch sehr junge Künstlerin die Kunstzeitschrift Geist heraus, in der sie mit anderen Künstlern in sieben Nummern über Theorie und über ihre Arbeit schrieb. 2005 erschien der Roman „Texten“, den Jonasson zusammen mit Albert Bonniers verfasste – eine abstrakte Meditation über das Entstehen von Texten, die beide gleichzeitig auf derselben Computertastatur schrieben. Der Text habe entsprechend das anfängliche Ringen um Platz und die Entwicklung zu einem wortwörtlichen Ineinandergreifen der Gedanken reflektiert, erzählt sie. Schließlich begann sie Comics zu zeichnen und veröffentlichte sie unter anderem in dem Band „Filiokus“ zusammen mit Arbeiten ihres Freundes Matti Kallioinen und anderen.

In Berlin ließ sich Jonasson dann auf Bilder ohne Worte ein. Sie begann in einer Ecke des weißen Blatts Papier und zeichnete ohne Plan drauflos. Dennoch begreift sie das Entstandene nicht als bloßen Tanz der Formen, sondern weiterhin als Szenen in einem wie auch immer seltsam verzerrten sozialen Raum. „Ich versuche, Ereignisse im sozialen Leben freizulegen, die dem Moment des Aufwachens entsprechen“, sagt sie – jenem fragilen Moment also zwischen Vernunft und Traum, zwischen In-sich-Ruhen und Aus-sich-Herausgehen. Dem entspricht die überraschende Individualität der Formen und Figuren trotz ihrer kollektiven, ornamentalen Anmutung. Jonassons Protagonisten sind mit sehr eigenen Haltungen und Gesichtsausdrücken ausgestattet.

Innerhalb einer Zeichnung variieren die Zeichenstile stark zwischen Realismus und Comic-Schema, Groteske und Karikatur. Wer die kunsttheoretischen Schriften von Ernst Gombrich kennt, fühlt sich unwillkürlich an seine Bücher über Wahrnehmungspsychologie (zum Beispiel „Kunst und Illusion“) erinnert. Es ist, als hätte Jonasson Gombrichs maßgebliche Kritik an der Kunstgeschichte, die keine Entwicklung von „primitiver“ zu „schöner“ Kunst sei, noch einmal prägnant ins Bild gesetzt.

Man kann sich auch vorstellen, dass sie in den 60er- und 70er-Jahren erfolgreich Plattencovers entworfen hätte. Sie fühlt sich jener Zeit nahe, in der Künstler „wie mit einem Infrarotgerät das Bewusstsein erforschten und sich für eine Menschlichkeit und Verbindungen jenseits der Kulturen interessierten“. Nicht von ungefähr hat Jonasson während ihres Berlin-Aufenthalts auch musikalisch experimentiert und verweist im Gespräch auf den „Progressive Rock“ in Schweden, der in den 70ern psychedelische Experimente und politisches Engagement verband. Das Politische war in Jonassons Arbeiten zuerst präsent gewesen, das Psychedelische hat sie sich jetzt erschlossen. Hoffentlich hindert sie die Rückkehr in den Stockholmer Kunstbetrieb nicht an einer Weiterentwicklung und Zusammenführung beider Gebiete – denn dann verspricht die Arbeit dieser Künstlerin richtig spannend zu werden.

Lisa Jonasson: Drawings, bis 2. 9. Mi.–So. 14–19 Uhr im Künstlerhaus Bethanien. Mehr unter www.lisajonasson.com