Drogenhandel

Kriminelles Marketing und Gewinnspannen wie sonst nur noch im Waffenhandel oder dem illegalen Drogengeschäft: Für seinen neuen Krimi ermittelte Wolfgang Schorlau in Sachen Pharmaindustrie. Hier berichtet der Schriftsteller, wie es zu „Die letzte Flucht“ gekommen ist

von Wolfgang Schorlau

In diesem Artikel geht es um Vertrauen. Es geht um Leben und Tod. Und um Hoffnung. Für einige wenige geht es um unvorstellbar viel Geld. Für andere um großes Leid. Wenn ich im Folgenden über die Entstehung meines neuen Krimis schreibe, dann steht hier wie dort ein ambivalentes, teils verbrecherisches System im Zentrum, mit dem wir täglich leben, dessen Struktur wir zu kennen meinen, in dessen Schatten wir uns eingerichtet haben. Kurz: Es geht um die Pharmaindustrie und damit verbunden um unser Gesundheitswesen.

Seit Längerem schon war ich unzufrieden mit mir, weil ich die Funktionsweise unseres Gesundheitssystems nicht verstand. Immerhin: Ich bezahle monatlich einen für mich erheblichen Betrag in dieses System ein. Ich lese die Nachrichten der Tagespresse, kenne die Diskussion über private oder gesetzliche Krankenversicherungen, habe nicht erst in John Le Carrés „Ewigem Gärtner“ von den üblen Machenschaften der Pharmaindustrie in Afrika erfahren. Ich bin mir bewusst, dass das Gesundheitswesen für uns alle, für unsere Kinder wie unsere immer älter werdende Gesellschaft existenziell so wichtig ist wie das sprichwörtliche tägliche Brot und trotzdem – ich hatte keine Ahnung, wie das Ganze im Kern funktioniert. Mein Beruf als Schriftsteller erlaubt es mir, mich ein oder zwei Jahre lang ganz einem Thema widmen zu können. Ich empfinde dies bis heute als Geschenk und weiß es zu schätzen. Kurzum: Ich beschloss, meinen neuen Roman im Gesundheitswesen spielen zu lassen. Die Arbeit wurde zu einer aufregenden Reise in ein schwer überschaubares Gebiet mitten in Deutschland.

Wenn es überhaupt ein weit verbreitetes Urteil, genauer müsste man sagen: Vorurteil, über das Gesundheitswesen gibt, dann, dass das Geld knapp ist. Gesetzliche Maßnahmen in diesem Bereich tragen fast immer den Begriff „Kostendämpfung“ in der Überschrift, und die miserable Bezahlung des Pflegepersonals kennt jeder. Es war eine große Überraschung, dass es trotz der tatsächlich vorhandenen Unterfinanzierung der Krankenhäuser und der miserablen Bezahlung der Angestellten einen Bereich gibt, der geradezu märchenhafte Gewinne aus diesem System schöpft. Diese Gewinne übersteigen bei weitem jene 25 Prozent Umsatzrendite, die Josef Ackermann einst für die Deutsche Bank ankündigte und von denen wir heute wissen, auf welchem Wege sie erwirtschaftet wurden. Die Umsatzrenditen der großen Pharmakonzerne liegen heute zwischen 30 und 40 Prozent. Es sind Gewinnmargen, wie sie sonst nur im Waffenhandel oder in illegalen Geschäften wie dem Drogenhandel erwirtschaft werden.

Geschäftspolitik ohne eine Spur von Ethik

Die zweite Überraschung: Ich habe noch nie in meinem Leben eine so verdorbene Geschäftspolitik erlebt wie in der Pharmabranche, ohne jede Spur von Ethik, auch wenn die handelnden Personen erstaunlicherweise meist eine Liebe zu klassicher Musik und moderner Kunst, zum kulturellen Leben im Allgemeinen aufweisen.

Das Geschäftsmodell ist einfach erklärt: Wir alle zahlen Geld in eine Krankenkasse ein. Die Aufgabe des Pharmamanagements besteht darin, eine möglichst große Summe dieser Versichertengelder in die Konzernkasse zu schaffen. Der Schlüssel zu diesem Transfer ist der Rezeptblock des Arztes. Alle Marketingmaßnahmen der Pharmaindustrie – zumindest, was deren Kernbereich betrifft, also den Handel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten – zielen daher auf den Arzt. Konsequenterweise bezeichnen die meisten Pharmamanager die Ärzte daher nicht als Ärzte, sondern nach der für sie wesentlichen Funktion: Sie nennen die Mediziner Verordner.

Ich möchte mich in diesem Artikel nicht lange bei den durchschnittlichen Korruptionsmethoden aufhalten. Ja, Topverordner wurden samt Familie zu dubiosen „Fortbildungsveranstaltungen“ in Länder mit angenehmen Klima geflogen. Ja, Ärzte wurden bei entsprechendem „Verordnungsverhalten“ mit iPods, Espressomaschinen und anderen Gerätschaften versorgt. Ja, Arztpraxen wurden mit Computer und Drucker ausgestattet, deren Software generell die Präparate des Sponsors zur Verschreibung vorschlug. Ja, es gab und gibt „Kickback“, also Umsatzbeteiligung der Ärzte an den verschriebenen Präparaten, getarnt durch wissenschaftlich völlig unnütze „Anwendungsbeobachtungen“.

Nach wie vor fälscht die Industrie wissenschaftliche Studien. Das Interesse, für ein untersuchtes Arzneimittel ein wirtschaftlich gutes, also positives Ergebnis zu erzielen, führt zu Manipulationen. Das beginnt bei der Auswahl der Probanden und endet bei der Frage, welche Daten berücksichtigt werden. Auch das Zurückhalten negativer Studienergebnisse (das „publication bias“) verfälscht Studienergebnisse und führt zu falschen Therapien, weil die behandelnden Ärzte die Negativwirkungen der verordneten Medikamente nicht kennen. Peter Sawiki, der frühere Leiter des Instituts für Qualitätssicherung im Gesundheitswesen, bemerkte einmal, durch die Zurückhaltung von medizinischen Studien seien in den USA mehr Menschen gestorben als im Vietnamkrieg.

Die Industrie selbst sagt, die hohen Gewinne seien nötig, um die enormen Kosten für die Neuentwicklung von Medikamenten finanzieren zu können. Nur: Die Pharmakonzerne forschen kaum noch. Forschung ist teuer und würde in der Tat die Gewinnspannen mindern. Das wollen die Pharmamanager, Aufsichtsräte und die Aktionäre auf keinen Fall. Druck allerdings entsteht durch die sogenannten Generika, preiswerte Nachahmerpräparate, die auf dem Markt erscheinen, wenn ein Patent ausläuft. Um im Wettbewerb der teuren, patentgeschützten Medikamente bestehen zu können, verändern die großen, weltweit agierenden Unternehmen an einem erfolgreichen, weil bekannten Medikament mit auslaufendem Patentschutz nur einige wenige Moleküle und erwerben für dieses „neue“ Medikament erneut Patentschutz. Eine „Scheininnovation“ betritt den Markt. Für das auslaufende Medikament entstehen meist sofort gleichartige und gleich wirksame, allerdings wesentlich preiswertere Generika.

40 Prozent der Ausgaben nur fürs Marketing

Die eigentliche Kompetenz der Pharmariesen kommt nun zum Einsatz: Sie versuchen die Ärzte dazu zu bewegen, ihr neues, teureres Medikament und nicht die Generika zu verordnen, für die Versicherten also eine nicht wirksamere, aber teurere Variante zu wählen. Hierzu wird die beeindruckende Armee der Pharmareferenten in Marsch gesetzt, es werden eigens eingesetzte Meinungsbildner (Medizinjargon: „Mietmäuler“) auf Kongressen und als Autoren in Fachzeitschriften eingesetzt – das volle Programm der öffentlichen Manipulation. Peter Schönhöfer, der Herausgeber des angesehenen Arznei-Telegramms, nennt dieses Vorgehen „kriminelles Marketing“, und er beklagt zu Recht, dass der Gesetzgeber keine Sanktionen dagegen beschließt.

Die Pharmariesen sind im Wesentlichen riesige Vertriebsmaschinen geworden. Dass sie kaum noch nach neuen Medikamenten forschen, drückt sich auch in der Struktur ihrer Budgets aus. Nur noch 10 Prozent ihrer Ausgaben, so Schönhöfer, geben sie für Forschung und Entwicklung aus, dagegen 40 Prozent für Marketing. Die Folge sind einerseits die hohen Kosten im Gesundheitswesen, andererseits aber gibt es daher auch kaum mehr neue, innovative Arzneimitteltherapien. Im Zeitraum von 1990 bis 2009 wurden, so Schönhöfer, 553 neue Wirkstoffe zugelassen, davon waren acht echte Innovationen (fünf entstammen der Pharamindustrie, drei der klinischen Forschung). 50 dieser Wirkstoffe hatten einen beschränkten Nutzen für die klinische Medizin, und knapp 500, also 90 Prozent, waren Scheininnovationen. Sie haben keinen Zusatznutzen gegenüber der Standardtherapie. Ihr Vorteil im Sinne der Konzerne bestand ausschließlich darin, dass sie teurer waren.

All diese Fakten habe ich bei der Konzeption meines neuen Buchs in zahlreichen Gesprächen mit Vertretern der Pharmaindustrie, der Politik, der Ministerien und der Ärzteschaft zusammengetragen. Vieles davon ist in Fachartikeln und Büchern auch publiziert worden. Am ungeheuerlichsten aber erscheint mir, wie Pharmakonzerne im Zusammenhang mit neuen Krebstherapien agieren. Derzeit bringt die Branche eine neue Generation von Krebsmedikamenten auf den Markt. Versprochen wird den Todkranken ein längeres Leben.

In der Realität geht es um deutlich erhöhte Gewinne. Das Ziel für die Industrie ist klar. Da sie die Preise für Medikamente immer noch einseitig festsetzen kann, treibt sie die Therapiekosten mit diesen neuen, meist biotechnisch gewonnenen Substanzen auf rund 100.000 Euro pro Patient und pro Jahr herauf – obwohl deren Überlegenheit gegenüber herkömmlichen Medikamenten noch gar nicht bewiesen ist und die Nebenwirkungen für die Patienten oft drastisch sind. Egal: Die Schwerstkranken sind die lukrativste Zielgruppe.

Das Gesundheitswesen: der Stoff für einen Kriminalroman

Bei den zahlreichen Gesprächen und der umfangreichen Lektüre auf dem Weg zur Geschichte meines Georg-Dengler-Krimis „Die letzte Flucht“ stellte sich mir immer deutlicher die Frage, warum Politik und Gesellschaft es zulassen, dass einige Konzerne die Gelder der Versicherten durch „kriminelles Marketing“ plündern. Der letzte Zweifel, dass ich im Gesundheitswesen den Stoff für einen Kriminalroman gefunden hatte, verflog, als ich herausfand, dass Pharmafirmen Selbsthilfegruppen unterwandern, sogar selbst welche gründen, um Plattformen für die Werbung ihrer neuen Substanzen zu finden.

„Direct to Consumer Advertising“ heißt diese Strategie. Die Manager wissen, dass die Schwerkranken nach jedem Strohhalm greifen, dass sie das Internet nach Information und Hilfe durchforsten, dass sie andere Menschen mit der gleichen Krankheit befragen, dass sie Hoffnung suchen. In diesen manipulierten Webseiten und in den ebenso manipulierten Veranstaltungen der falschen Selbsthilfegruppen lassen die Pharmamanager ihr Mittel von bezahlten „Mietmäulern“ als neue Heilungschance verkaufen. Scheinbar Kranke geben sich in diesen Treffen und Foren als geheilt aus. Sektenartig wird der Glaube an die Medizin und der Zweifel am betreuenden Arzt geweckt. Ziel ist es, dass die Patienten darauf bestehen, ein bestimmtes, ihnen durch geschummelte Selbsthilfegruppen empfohlenes Medikament zu nehmen. Dies ist eine der niederträchtigsten Geschäftsideen, denen ich je begegnet bin. Es wurde Zeit für meinen Privatermittler Georg Dengler.

„Die letzte Flucht“ ist Denglers sechster Fall und wieder ein politischer Krimi geworden, die Spezialität des Stuttgarter Autors Wolfgang Schorlau. Mitte September erscheint sein Buch bei KiWi, und am Dienstag, 20. September, stellt er es im Literaturhaus Stuttgart vor (20 Uhr) vor. Moderieren wird der Krimischriftstellerkollege Heinrich Steinfest.