Der andere 11. September

ZEITENWENDE Schon einmal hat dieses Datum ein ganzes Land verändert: Als 1973 in Chile die Militärs gegen Salvador Allende putschten. Die Unternehmen sind bis heute in den Händen der damaligen Profiteure

Wie in den arabischen Ländern oder in Spanien treibt die Ungerechtigkeit die Jungen auf die Straße

VON GONZALO ERNESTO CACERES

Gegen Mittag des 11. September 1973 reichten sich in Santiago de Chile die Bosheit und der Hass die Hand. An diesem Tag setzten die Militärs dem Experiment ein Ende, das als „friedlicher Weg zum Sozialismus“ bekannt war. Das Bild, das der Welt von diesem Tag in Erinnerung ist, ist das vom brennenden Präsidentenpalast, nachdem die Luftwaffe dieses Symbol der chilenischen Demokratie bombardiert hatte.

Der Chef der chilenischen Luftwaffe rechtfertigte den Putsch und die Bombardierung als einen notwendigen Schritt, um „das Krebsgeschwür des Marxismus“ auszumerzen. Dieses Ziel hatten die US-Regierung und wichtige multinationale Unternehmen der USA formuliert, seit Präsident Salvador Allende 1970 vom Volk gewählt worden war.

Vier Kampfflugzeuge bombardierten die der Regierung nahestehenden Radiosender, das Haus von Salvador Allende und seinen Amtssitz, die Moneda, aus der sie später Allende tot bergen sollten. Ich werde nie den Schmerz vergessen.

Die Jahre vergingen, die Chilenen reorganisierten sich und beendeten die Diktatur. Noch immer im Exil lebend, schossen mir an einem anderen Septembermorgen all die Erinnerungen an die schrecklichen Momente wieder durch den Kopf. Ich war in einem Elektromarkt, und alle Fernseher zeigten CNN. Plötzlich konnten wir den Terrorangriff auf das World Trade Center live mitverfolgen. Mir ging durch den Kopf: wieder vier Flugzeuge.

Aber inwieweit würde das, wie in Chile, den Beginn einer neuen Ära markieren? George W. Bush begann eine tiefgreifende Umwälzung der nordamerikanischen Gesellschaft, um die Welt zugunsten der einzigen nach dem Fall der Mauer verbliebenen Supermacht zu verändern.

Wir wissen inzwischen, wie es dann weiterging, sowohl in den USA als auch in der Welt, und wie der Krieg wieder als eine der ersten möglichen Optionen zurückkehrte. Kriege übrigens unter großer lateinamerikanischer Beteiligung: Die Region verwandelte sich zu einem begehrten Markt für die Anwerbung von Söldnern – in ihrer Mehrheit Soldaten, die in den Diktaturen von Ländern wie Chile, Argentinien oder Uruguay ausgebildet worden waren.

Inzwischen hatte sich Chile, nach Jahren bestialischer Repression, in ein leuchtendes Vorbild des globalen Kapitalismus verwandelt, das von den westlichen Ländern und ihren Risikobewertern hoch gelobt wurde. Längst war offensichtlich, dass es den chilenischen Putschisten darum ging, die Bedingungen für ein ultraliberales Wirtschaftsmodell zu schaffen. Und sie hatten nicht nur Chile im Blick. Das Andenland sollte zum Lehrstück für die Welt werden.

Chilenische Experten hielten Vorträge auf Konferenzen in der ganzen Welt, vor allem in den osteuropäischen Ländern, und sprachen über die effizientesten Möglichkeiten, Länder zur Liberalisierung ihrer Wirtschaft zu führen. Die Ökonomen waren stolz auf das, was sie geschaffen hatten. Aber sie haben nie anerkannt, dass die radikale Umstrukturierung der Wirtschaft nur aufgrund einer brutalen Militärregierung möglich war. Die Putschisten stürzten die demokratisch gewählte Regierung, folterten und ermordeten die Oppositionellen, schafften das Parlament ab und verboten die politischen Parteien. Die Presse wurde zensiert, die Gewerkschaften verboten, jeglicher Kündigungsschutz aufgehoben, die Löhne eingefroren. Jegliche Umweltschutzgesetzgebung wurde abgeschafft. Politische Repression bei gleichzeitiger maximaler wirtschaftlicher Deregulierung – das „chilenische Modell“ unter der Führung des Generals Augusto Pinochet bedeutete Neoliberalismus unter Laborbedingungen.

Die Chilenen befreiten sich in einem harten Kampf von der Diktatur. Im März 1990 kam wieder eine demokratische Regierung ins Amt, die Wirtschaft aber blieb in den Händen jener, die sich am Putsch bereichert hatten, der Neoliberalismus blieb auch in der Demokratie, und zunächst schien das ja auch zu funktionieren: Während die Nachbarländer in den 80er und 90er Jahren von „verlorenen Jahrzehnten“ sprachen, erzielte Chile gute Wachstumsraten und erntete Bewunderung.

Das „chilenische Modell“ unter General Pinochet bedeutete Neoliberalismus unter Laborbedingungen

Inzwischen allerdings zeigt das Modell seine ganze Grausamkeit. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Chile verfügen über ein Pro-Kopf-Einkommen, das 78-mal so hoch ist wie das der ärmsten zehn Prozent . Das oberste Fünftel der Gesellschaft konzentriert heute 51,3 Prozent der Einkünfte, das unterste 5,38 Prozent. Chile ist eines der Länder mit der ungleichsten Einkommensverteilung Lateinamerikas und der Welt.

Der Abschied vom Wohlfahrtsstaat, die Sozialisierung von Verlusten und Privatisierung von Gewinnen der Unternehmen – all das rächt sich heute. Die Leute können einfach jene Dienstleistungen nicht bezahlen, die sie früher kostenlos in Anspruch nehmen konnten. Das von der Pinochet-Diktatur eingeführte und bis heute unangetastete Wirtschaftsmodell verwandelte Gesundheit, Wohnraum, Bildung und einen würdigen Lebensabend in Handelswaren, zu immer höheren Preisen. Studenten müssen höhere Studiengebühren zahlen als in den USA, und die Universitäten sind mehr an ihren Umsätzen interessiert als an der Lehre. Sie vergeben Kredite mit 16 Prozent Jahreszinsen – und wenn die Studenten nicht mehr zahlen können und ihr Studium abbrechen, verscherbeln sie die Kredite und haben Platz für neue Opfer.

Es ist nicht verwunderlich, dass jetzt tausende junger Leute auf die Straße gehen. Sie fühlen sich missbraucht, belogen und betrogen. Wie in den arabischen Ländern oder in Spanien treibt die Ungerechtigkeit die Jungen auch in Santiago auf die Straße. Sie scheinen nicht mehr bereit zu sein, ein Spekulationssystem auf Kosten der schwächsten zu unterstützen. Die Jugend will nicht den Kapitalismus abschaffen, wenigstens jetzt nicht, aber sie will einen modernen und nachhaltigen Wohlfahrtsstaat, in dem alle die Chance haben, am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben.

38 Jahre nach dem Putsch in Chile und zehn Jahre nach den Anschlägen auf die Zwillingstürme hat die Welt gelernt, die Demokratie zu schätzen. Sie hat aber auch gelernt, dass der Kampf für ein demokratisches System längst darüber hinausgeht, Parlamente und gewählte Regierungen zu haben. Es geht um das Recht auf Arbeit, auf Bildung, Gesundheit, Nahrung, Wohnraum und saubere Umwelt. Rechte, die man nicht erreichen wird, wenn das wirtschaftspolitische Modell der Putschisten weiter Bestand hat, das an jenem anderen 11. September in Santiago de Chile an die Macht gebombt worden war.

Caceres, 64, ist Moderator und Reporter bei Deutsche Welle-TV. In Cauquenes, Chile, geboren, emigrierte er 1974 in die BRD