Goldküste des Krieges

BOOM Der 11. September geschah und über die Gegend kam ein Geldsegen. In den Hampton Roads an der Ostküste der USA wird für den Krieg produziert. Was wird bloß, wenn das Militär jetzt sparen muss?

■  Die Region: Im Südosten des US-Bundesstaats Virginia liegt der Ballungsraum Hampton Roads. Dazu zählen u. a. die Städte Virginia Beach, Norfolk, Chesapeake, Newport News, Hampton, Portsmouth und Suffolk – mit insgesamt 1,6 Millionen Einwohnern.

■  Der Profit: Kriegshafen, Militärstützpunkte und Rüstungsfirmen bringen viel Geld. Das Bruttoinlandsprodukt der Region wuchs von 2000 bis 2010 um 31,8 Prozent, das nationale BIP nur um 18,9 Prozent. Die Verteidigungsausgaben in den Hampton Roads verdoppelten sich in dieser Zeit.

AUS DEN HAMPTON ROADS DOROTHEA HAHN

Die Anschläge hätten Tom Mastaglio um ein Haar vom Feiern abgehalten. Für Freitag, den 14. September 2001, hatte der ehemalige Army-Offizier, der im Vietnamkrieg einen Hörschaden erlitt, zur Einweihungsparty seiner neuen Firma in Portsmouth geladen. Die Bilder aus New York und Washington verunsicherten ihn jedoch. Sollte er absagen? Tom Mastaglio beschloss, den Termin zu halten – und alles andere hätte sich rückblickend als gründliche Fehleinschätzung herausgestellt. Denn das Spezialgebiet seiner Firma Mymics sollte eine Computertechnik werden, die vor allem das Militär braucht.

Die Party fand statt.

Sie dauert bis heute. 80 Softwareingenieure und andere hochkarätige Techniker arbeiten mittlerweile für Mastaglio. Schon im zweiten Jahr vervierfachte er sein Geschäftsergebnis. Er ist einer der Profiteure dessen, was auf den 11. September folgte, und damit typisch für die Stadt Portsmouth, typisch für die Hampton Roads, jenen Ballungsraum an der Atlantikküste, in dem über anderthalb Millionen Menschen leben. Sie leben zu einem großen Teil vom Krieg.

„Willkommen, Fluglärm – schließlich sind es unsere eigenen Kampfjets“, steht in einem Schaufenster in Virginia Beach, eine halbe Autostunde von Tom Mastaglios Firma in Portsmouth entfernt. Daneben ist ein Eselshintern in den Farben der US-Flagge gemalt. Sowie der Hinweis: „Wer’s nicht mag, kann verschwinden“. Ein paar Kilometer weiter erstreckt sich ein langer Sandstrand, an dem die Touristen aus Washington ihre Wochenenden verbringen. In der anderen Richtung liegt die Chesapeake Bay: Der Naturhafen am Atlantik, an dessen Ufern sämtliche Waffengattungen der USA mit Kasernen und Nachschubstationen vertreten sind. Wo fünf Flugzeugträger, sieben U-Boote, 24 Zerstörer, fünf Kreuzer sowie mehrere Dutzend weitere Schiffe der 2. US-Flotte beheimatet sind. Und wo hunderte große und kleine Rüstungsbetriebe für die nationale Verteidigung arbeiten.

Die Hampton Roads sind eine der am meisten militarisierten Gegenden des Landes. Während anderswo in den USA Fabriken schließen, Menschen ihre Arbeit verlieren und die Häuserpreise zusammensacken, geht über der Region, drei Autostunden südöstlich von Washington, seit einem Jahrzehnt ein Geldsegen an Verteidigungsausgaben nieder. Jedes Jahr steigen die Direktinvestitionen um rund 10 Prozent. Die bisher größte Summe floss 2010: fast 22 Milliarden Dollar. Zusammen mit den Investitionen und dem Konsum vor Ort ergibt das ein Wirtschaftsvolumen von 38 Milliarden Dollar. 46 Prozent der regionalen Wirtschaft kreisen ums Militärische. Fast die Hälfte der insgesamt 750.000 Arbeitsplätze hängen davon ab. Darunter 100.00 Soldaten in Uniform, die in der Region stationiert sind, sowie 40.000 zivile Angestellte des Verteidigungsministeriums.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs drohten harte Zeiten

„Uns hat der Krieg genutzt: die Militärausgaben haben sich verdoppelt“, sagt Enoch Dana Dickens in seinem Büro am Rand des Hafens von Norfolk: „Sie haben 75 Prozent unseres regionalen Wachstums ausgemacht.“

So klar drücken sich wenige in den Hampton Roads aus. Die meisten vermeiden das Wort „Krieg“. Sie sagen: „Ich arbeite in der nationalen Verteidigung“. Oder – noch neutraler: „Für die Regierung“.

Tom Mastaglio hat für seine Firma sogar einen positiven, einen konstruktiven Dreh gefunden: „Architekten der Veränderung“ lautet sein Slogan.

Enoch Dana Dickens ist weder Militär noch Waffenproduzent, sondern Präsident der Hampton Roads Partnership – einer Vereinigung, der alle 17 Bürgermeister der Region, die sechs Kongressabgeordneten und zahlreiche Unternehmen angehören. Früher war er Bürgermeister von Suffolk, bis heute ist er ein Zivilist, der ganz einfach die Zahlen beobachtet.

Bei ihrer Gründung im Jahr 1996 riet die Vereinigung dringend zu einer „Diversifizierung“. Schon Mitte der Neunzigerjahre hing ein Viertel des regionalen Wirtschaftsgeschehens vom Militär ab. „Das ist riskant“, sagt Enoch Dana Dickens heute, „wie an der Börse.“

Es sind die Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Verteidigungshaushalt in Washington schrumpft. Den Hampton Roads, die auf Kalten Krieg geeicht waren, drohen harte Zeiten. Der 11. September ändert das. Das Pentagon und das neu gegründete Ministerium für die Heimatschutz stellen Geld zur Verfügung. Nicht nur für das Militär und für die Rüstungskonzerne. Sondern auch für die kleinen Subunternehmen, die seit den neunziger Jahren aus dem Boden geschossen sind. Im Pentagon gilt gerade ein neues Dogma: privatisieren. Vieles von dem, was zuvor Soldaten erledigt haben – kochen, Unterricht und Unterhaltung in den Kasernen, aber auch Wachschutz vor den Toren und Kampfvorbereitungen – geht an Auftragnehmer in der Privatwirtschaft.

Bis heute sind die Auftragnehmer fast ausnahmslos ehemalige Militärs. Sie sind zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig, wenn sie in Rente gehen. Sie kennen ihre Kunden aus der gemeinsamen Zeit in Uniform und sprechen die Sprache der Militärs. Sie gelten bloß als flexibler. Und ihre Arbeit ist angeblich billiger.

Nach dem 11. September hat in den Hampton Roads der Run auf Aufträge von der Bundesregierung begonnen. Sie ist der beste mögliche Kunde. Sie zahlt immer. Und pünktlich.

Der Ausdruck „Gewinner des Kriegs gegen den Terror“ gefällt Tom Mastaglio nicht. In seiner Branche sind Geheimhaltung und „Backgroundchecks“ Alltag. Er will den Pass der Journalistin sehen, bevor das Gespräch beginnt: „Sie könnten eine Spionin sein.“ Dann beschreibt er die Sache so: „Ohne den Irak und Afghanistan hätten wir hier nicht so viel Aktivität.“ Diese „Aktivität“ kommt vor allem drei Gruppen zugute: dem Militär, den Konstrukteuren – von Flugzeugträgern und U-Booten zum Beispiel – und den „technischen Dienstleistern“. Zu Letzteren zählt auch Mastaglios Unternehmen Mymic. Es entwirft Computersimulationen für Krieg und Frieden. Soldaten können daran trainieren, ohne sich wehzutun.

Viele von Mastaglios Leuten haben ihren Arbeitsplatz nicht am Firmensitz in Portsmouth, sondern im Innern sensibler Einrichtungen des Militärs, wo sie an „Missionen“ arbeiten. Was sie dort genau tun? „Das ist vertraulich“, sagt Mastaglio, „ich weiß es oft selbst nicht.“

2001 hoffte Mastaglio noch auf kommerzielle Kunden und privates Kapital, um eigene Software zu entwickeln. „Doch die blieben aus“, sagt er. Stattdessen kamen Aufträge aus dem Pentagon herein. In den vergangenen zehn Jahren machten sie bis zu 70 Prozent seines Geschäfts aus.

In den Hampton Roads profitiert kaum jemand nicht vom Krieg. Die Kliniken – sie haben viele Patienten, nicht nur wegen der Kriegsversehrten, sondern auch weil Soldaten und Veteranen bessere Krankenversicherungen haben als die meisten US-Bürger. Die Textilindustrie – denn ein Gesetz schreibt vor, dass die Kleidung für Soldaten in den USA hergestellt werden muss. Die Regionalzeitung Virginian Pilot, die das Navy-Blatt Flagship mit einer wöchentlichen Auflage von 40.000 Exemplaren herstellt. Und die Forschung.

Roboter gegen Schwärme von Terroristen

An Williams & Mary, der zweitältesten Universität der USA, erklärt der Ozeanograf Mark Patterson, „dass die U.S. Navy jeden Tag mehr Beobachtungen anstellt als alle anderen Marinelabors der Welt zusammen“. Der Professor ist in zitronengelbem T-Shirt und Shorts zur Arbeit gekommen. Seinen autonomen Unterwasserroboter „Fetch“ – Fang! – hätschelt er wie ein Spielzeug. Er hat das Gerät Mitte der Neunziger mit einem Kollegen entworfen und aus eigener Tasche finanziert. Wozu? „Zum Fische zählen“, sagt der Professor.

Nach 9/11 interessierte sich die Rüstungsindustrie für das Gerät. Lockheed Martin verlieh dem Professor einen Preis. Northrop Grumman kaufte das Recht, eine größere Version des Roboters zu bauen. Sie soll eines Tages Häfen und Kanäle vor Attentaten schützen. Mark Patterson sagt, dass es sich „gut anfühlt“, mit dafür zu sorgen, „dass 19.000 Arbeitsplätze in der Region bleiben“.

Der Professor glaubt, dass auch Terroristen Unterwasserroboter haben. Sie könnten „Schwärme“ davon auf „sensible Ziele“ ansetzen, sagt er. Ein mögliches Ziel liegt in Rufweite seines Labor: die Naval Weapon Station Yorktown. Dort deckt sich die Atlantikflotte der USA mit Waffen und Munition ein.

In Broschüren nennen sich die Hampton Roads „Americas First Region“. Im Jahr 1607 gingen die ersten Europäer in der Chesapeake Bay an Land. Am Grund der Wasserläufe liegen Schiffswracks aus dem Unabhängigkeitskrieg. Die Eröffnung des Marinestützpunktes in Norfolk 1917, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, hat das Geschick der Region bestimmt. Seither ist sie an jedem Krieg beteiligt.

Im Militärjargon heißen die Hampton Roads heute „Pentagon-Süd“. Das Pentagon in Washington, das fünfeckige Hauptgebäude des Verteidigungsministeriums, ist nur eine Flugstunde im Hubschrauber entfernt.

Auskunft darüber, was der Krieg gegen den Terror an der regionalen Wirtschaft verändert und was sich in den letzten zehn Jahren verschoben hat, erteilt die Branche nicht gern. Der größte Rüstungskonzern Lockheed Martin lässt sich alle Fragen schriftlich geben. Verspricht einen Rückruf, der nie kommt. Das Pentagon prüft tagelang die Fragen. Verlangt Details über die Story. Grenzt ein, über welche Themen ein verantwortlicher Offizier in den Hampton Roads möglicherweise sprechen könnte. Und organisiert am Ende doch keinen Ortstermin.

Gerade in den Werkstätten in den Hampton Roads brummte das Geschäft im letzten Jahrzehnt. Manche haben spektakuläre Gewinne gemacht. Darunter ADS, die Atlantic Diving Supply Inc. aus Virginia Beach, die mit dem Verkauf von Tauchzubehör begann und im vergangenen Jahr Kleidung und Ausstattung im Wert von einer Milliarde Dollar an das Pentagon lieferte. Sowie die Söldnerfirmen, die komplette private Kampftruppen anbieten. Die weltweit größte ist Xe. Sie hat ihr Trainingsgelände am Rand der Hampton Roads. Bis Februar 2009 hieß das Unternehmen „Blackwater“. Nachdem sich US-Gerichte mit der Ermordungen von siebzehn Zivilisten durch Blackwater-Söldner in Bagdad befassten, haben die Manager den Namen in „Xe“ geändert. Es arbeitet weiter für die US-Regierung. Unter anderem in Afghanistan. Sowohl ADS als auch Blackwater sind 1997 von früheren Soldaten der Spezialeinheit Navy Seals gegründet worden.

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der scheidende US-Präsident Dwight Eisenhower seine Landsleute vor der „potenziell unheilvollen Macht des militärisch-industriellen-Komplexes“ warnte. Der Fünfsternegeneral war Oberkommandierender im Zweiten Weltkrieg. Unter seiner Ägide bauten die USA ihre militärische Macht dramatisch aus. Er wusste, wovon er redete, als er den Begriff „militärisch-industrieller Komplex“ prägte, den sich Generationen von Antimilitaristen in aller Welt zu eigen machen sollten.

„Wir können uns nicht länger das Risiko von Improvisation in der nationalen Verteidigung erlauben“, sagte Eisenhower im Januar 1961 unter Verweis auf die Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Wir brauchen eine permanente Rüstungsindustrie von enormen Ausmaßen“. Da deren Existenz aber weitreichende „ökonomische, politische und spirituelle“ Konsequenzen habe, forderte er in seiner Abschiedsrede nach acht Jahren als Präsident die Bürger auf, „wachsam und sachkundig“ zu sein, und beauftragte die gewählten Politiker, „die Freiheit und den demokratischen Prozess“ gegen eine Beeinflussung durch den militärisch-industriellen Komplex zu verteidigen.

In den Hampton Roads wirkt es, als verteidigten die Politiker vor allem den militärisch-industriellen Komplex.

Sie sorgen sich um den lohnenden Flugzeugträger

Gegen die geplante Verlagerung eines Flugzeugträgers aus Norfolk nach Mayport in Florida stemmen sich alle Politiker aus der Region mit vereinten Kräften. Die Regierung in Washington argumentiert, es sei sicherer, die Flugzeugträger auf verschiedene Orte zu verteilen. Alle örtlichen Politiker wollen aber alle fünf Flugzeugträger behalten. Ein Flugzeugträger bedeutet rund 900 Millionen Dollar pro Jahr. Im Übrigen, so argumentieren sie, habe Norfolk bereits tiefe Fahrrinnen und einen ausgebauten Hafen. In Florida müssten erst Millionen investiert werden.

Ähnliche Diskussionen gibt es im Jahr 10 der Kriege gegen den Terror vielerorts in den USA. Von den Milliarden aus dem Pentagon hat jeder Bundesstaat etwas abbekommen: eine neue Militärakademie, einen Großauftrag für wüstensandresistente Panzerwagen, eine Werkstatt für Drohnen, eine Motorenfabrik für den neuen Tarnkappenfighter F-35, eine Modernisierung der Atombomben. Jetzt, wo die Gelder knapper und die Verteilungskämpfe härter werden, stehen überall Arbeitsplätze auf dem Spiel. Und finden sich überall Politiker, die im Repräsentantenhaus und im Senat „ihr“ Waffensystem, „ihren“ Standort verteidigen. Immer versehen mit dem Hinweis auf die „nationale Sicherheit“. Zugleich wissen alle Akteure, dass die fetten Jahre zu Ende gehen. Auch Mastaglios Firma in Portsmouth mit ihren Computersimulationen verlor in den letzten Monaten Aufträge.

In Norfolk am Hafen steht ein verglastes Gebäude, das World Trade Center heißt. Im dritten Stock sagt Craigh Quigley: „Wenn Präsident Eisenhower heute zurückblicken könnte, wäre er zufrieden damit, was der militärisch-industrielle Komplex erreicht hat“.

„Willkommen, Fluglärm – schließlich sind es unsere eigenen Kampfjets“

SPRUCH IN EINEM SCHAUFENSTER IN DEN HAMPTON ROADS

Der 58 Jahre alte Mann hat die kerzengerade Körperhaltung und die knappe Sprache von Militärs. Auf seiner Visitenkarte steht: „Konteradmiral der Navy in Rente“ und „leitender Direktor“. Am 11. September 2001 arbeitete Quigley im Pentagon. Wenige Tage später wechselte er in das „Central Command“ von General Tommy Franks, das im Oktober 2001 die ersten Schläge gegen die Taliban führte. Es war sein letzter Einsatz in Uniform. Im Sommer 2002 – er war 50 – trat Quigley in den Ruhestand. Doch dem militärisch-industriellen Sektor ist er treu geblieben. „Was verstehe ich schon von Autos oder von Öl oder von Bildung?“, sagt er. „Meine Qualifikation sind die Verteidigungsindustrie und das Verteidigungsministerium.“ In seinen neun Jahren als „Rentner“ hat er nacheinander für den Rüstungskonzern Lockheed Martin, für das Militär – dieses Mal als Zivilist – und seit diesem Frühsommer für die „Hampton Roads Military and Federal Facilities Alliances“ gearbeitet. Seine Aufgabe dort: Regierungsaufträge in die Region holen und halten.

Der Zeitpunkt ist kritisch. Denn im Bundeshaushalt stehen tiefe Einschnitte an. Fürs Erste muss das Pentagon 350 bis 400 Milliarden Dollar in den nächsten zehn Jahren sparen. Doch bald könnte es härter kommen: Einigt sich die mit Abgeordneten von Republikanern und Demokraten besetzte „Super-Kommission“ in Washington nicht bis November auf einen Plan, um das Haushaltsdefizit zu bekämpfen, drohen noch höhere Kürzungen.

Diese Perspektive beunruhigt Quigley. Wenn er die gegenwärtigen Gefahren beschreibt, klingt es, als hätte der Krieg gegen den Terror jede Menge Zukunft. „Der Kalte Krieg war eine Konzentration auf das sowjetische Reich“, sagt er, „aber heute gibt es Cyberdrohungen, nichtstaatliche Akteure, Bürgerkriege in Afrika und Terrorismus weltweit.“

Katarina Mullens ist in einem Land im Krieg aufgewachsen. Als die Flugzeuge in die Zwillingstürme rasten, saß sie in Richmond, Virginia, im Geschichtsunterricht. Erst am Abend erfuhr die damals Dreizehnjährige von den Attentaten. Zehn Jahre später glaubt sie, dass sie gespürt habe: „Wir waren eine Nation, die nicht im Krieg war. Jetzt wird sich alles ändern.“

Sie passt zur Army, findet die Krankenschwester

Für Mullens Entscheidung, eine Uniform der U.S. Army zu tragen, spielt der 11. September keine Rolle. „Die Army passt einfach gut zu meiner Persönlichkeit“, sagt sie: „mir gefällt Leadership, mir gefällt die Ausbildung zu einer besseren Bürgerin und mir gefällt die militärische Kultur.“ Umgekehrt wollte die Army sie unbedingt haben. Sie braucht Krankenschwestern.

Es ist das erste Interview der heute 23-Jährigen. Zwei Ausbilder, auch in Uniform, sitzen mit am Tisch. Als Mullens zögert, bevor sie sagt, dass sie gerne nach Afghanistan ginge – „zu einer humanitären Mission“ –, spricht ihr einer der Ausbilder Mut zu.

Im Oktober wird Mullens in eine Kaserne in Texas umziehen. Dann folgt ein Krankenhaus auf Hawaii. Sie ist seit ihrem ersten Studienjahr in Norfolk beim ROTC, dem Reserve Officer Training Corps. Die Army hat ihr ein Stipendium gezahlt. Sie hat dreimal die Woche in Uniform trainiert, an Schulungen und Zeremonien teilgenommen und sich für fünf Jahre verpflichtet. Ihre Familie, die vor vier Jahren noch ablehnend auf die Pläne der Tochter reagierte, hat inzwischen auch ihren Bruder zum ROTC geschickt.

Das ROTC rekrutiert Nachwuchs für das Militär. „Military Science“ steht am Eingang zu dem roten Backsteingebäude auf dem Campus der Old Dominion University in Norfolk. Im Innern wimmelt es von Uniformierten. 23 Prozent der Studierenden kommen aus dem Militär, zur Eröffnung der Footballsaison fliegen Kampfflugzeuge übers Stadion. Zu den Schulen hat das ROTC freien Zutritt. Von seinem Werben ausgenommen sind lediglich Kinder, deren Eltern ausdrücklich unterzeichnet haben, dass sie keinen Kontakt mit dem Militär wünschen. Ein neues Gesetz – ebenfalls ein Produkt des Kriegs gegen den Terror – gewährt Soldaten und ihren Familien Studienstipendien.

„Wir können da nicht mithalten“, sagt Tom Palumbo in Virginia Beach: „Sie haben mehr Geld und mehr Leute.“ Der 51 Jahre alte Krankenpfleger war früher selbst Soldat. Heute gehört er zu einer Gruppe von „Veteranen für den Frieden“. Sie haben ein GI-Café in den Hampton Roads betrieben und – nachdem das Recht darauf vor Gericht erklagt worden war – sind in Schulen gegangen, um „Gegen-Rekrutierungen“ zu veranstalten. Aber das Häuflein von Antimilitaristen ist klein. Und während andernorts in den USA wöchentlich Friedensdemonstrationen oder -gebete stattfinden, eröffnen in den Hampton Roads Kirchen Sonntagsmessen mit einem Gedenken „an die Abwesenden, die bereit zu dem höchsten Opfer sind“.

Palumbo besitzt eine kleine Garderobe von Antikriegs-T-Shirts. „Nichts Aggressives“, sagt er: „Hier kann man Soldaten nicht als Babykiller bezeichnen.“ Inmitten der Region, die im Rhythmus der Kriege lebt, horcht er auf die kleinen Dinge. Er freut sich schon, wenn er bei einer Mahnwache am Eingang zur Little Creek Amphibious Base ein paar anerkennend hochgehaltene Daumen statt obszöner Zeichen bekommt.

Wenn seine Freunde Antikriegstreffen in New York oder Washington abhalten wollen, sagt Palumbo ihnen, dass sie in den Hampton Roads für den Frieden kämpfen sollten: „Hier ist die Front.

Dorothea Hahn ist USA-Korrespondentin der taz