Die Chronisten sind hingerissen

MAUER Der Dokumentarfilm „Berlin East Side Gallery“ beleuchtet die jüngsten Entwicklungen um das Denkmal der Grenze

Geschichte ist ja oft voller Ironie. So manches historische Monstrum und mancher grausige Ort wird zur Kultstätte und zum Pilgerziel, wenn erst einmal genug Gras gewachsen ist. Und wenn das Gras noch länger ist, wird dann darüber gestritten, ob man diese Mahnmahle noch braucht. Die Berliner Mauer ist auch so ein Monstrum.

In den Monaten nach Öffnung der Mauer lag es nahe, sie aus dem Stadtbild zu entfernen, und Blumenbeete auf ihrer Verlaufslinie zu errichten. Oder Einkaufszentren und schicke Town Houses. An den meisten Orten passierte genau das, und nur noch in den Boden eingelassene Stahlstreben oder Gedenksteine an die einstige Teilung der Stadt. Von dem längsten noch stehenden und berühmtesten Mauerabschnitt erzählt der Dokumentarfilm „Berlin East Side Gallery“.

Mehr als 1,3 Kilometer lang zieht sie sich die weltweit größte Freiluft-Galerie. Die Mauer dort sollte werden, was sie nie war: Ein fröhliches Symbol für die Freiheit und die Menschenrechte, an dem sich Künstler aus der ganzen Welt ausleben dürfen, 118 insgesamt, aus 21 Ländern.

Vor 25 Jahren wurde der Mauerstreifen an der Mühlenstraße zum ersten Mal bemalt. Mit sozialistischen Brüderküssen, mit Davidsternen auf Deutschlandflaggen, mit Trabanten, die durch Mauern fahren oder japanischen Sonnenaufgängen über dem Fuji-Vulkan. Im Jahr 2009 schließlich sollten alle Mauerbilder restauriert und neu gemalt werden.

Das ist der Moment, ab dem die Kreuzberger Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies mit ihren Kameras zur East Side Gallery ziehen und fortan die Restaurierungsarbeiten begleiten. Das tun sie mit dem Pflichtbewusstsein zweier Geschichtschronisten, die einerseits ganz hingerissen sind von diesem Ort. Und die andererseits ahnen, dass dessen Tage gezählt sind.

Trotz des Volksentscheids gegen die Bebauung des Spreeufers wurde dann doch das eine oder andere Glasmonster auf den ehemaligen Todesstreifen hingeklotzt. Mauersegmente mussten weichen. Und die Bebauungspläne gehen weiter. Auch von diesem Konflikt erzählt die Dokumentation. Auf der einen Seite die Künstlerinitiative, auf der anderen die Investoren und der Berliner Senat, der bauen lässt.

Klar ist: Die halbe Million Touristen, die jedes Jahr an der Mauer entlang spaziert, kommt nicht wegen der schicken Appartements, sondern der Künstler wegen, die sich hier verewigt haben.

Erzählt wird die Geschichte der East Side Gallery mit recht konventionellen Mitteln. Archivmaterial von der Bemalung im Jahr 1990 wechselt sich ab mit ausführlichen Interviews mit Künstlern, Aktivisten und Initiatoren. Meinung steht neben Meinung. So entsteht ein dem Thema angemessenes buntes Mosaik an Sichtweisen, deren Ambivalenz ganz ungeschnitten wiedergegeben wird.

Wir sehen, wie Graffiti mühevoll von den Wänden gerieben, wie Löcher gefüllt werden und in der Sommerhitze gemalt, gepinselt und gesprayt wird. Viele Künstler dürfen ausführlich davon erzählen, welche Bedeutung ihre Wandbilder haben. Die Herangehensweise des Films wirkt im Resultat aber etwas langatmig. Schöner als die Gespräche mit den Künstlern sind eigentlich jene mit den ABMlern, die das Arbeitsamt geschickt hat und die sich plötzlich an der Mauer als Künstler entdecken.

Und dann geht es am Ende auch ein bisschen darum, wer nun die Idee zur East Side Gallery hatte. Da wird dann gestichelt und Ideenklau beklagt. Die Filmemacher Kaper und Szuszies machen aber deutlich: Angesichts der Bedrohung der East Side Gallery durch Investoreninteressen gibt es sicher drängendere Themen als diese Hühner/Ei-Debatte. ANNE-SOPHIE BALZER

■ „Berlin East Side Gallery“. Regie: Karin Kaper, Dirk Szuszies. Deutschland 126 Min.