Die Essbarkeit der Welt

ETHIK Die Bremer Schwankhalle erzählt Karen Duves Bestseller „Anständig essen“ auf der Bühne nach. Dabei zeigt die Inszenierung vor allem den Kampf des gut meinenden Subjektes mit sich selbst

In den guten Momenten mischt sich in die Theaterguckstille ein Quantum Betretenheit: Alles, was man hier erfährt, können wir schon lange wissen

„Februar 2010: Es schneit, es taut, es schneit, es taut.“ Der Schauspieler Christoph Glaubacker steht auf der Ecke eines Bühnenpodestelements und skizziert mit einer simplen Handbewegung den Schneehöhenverlauf: auf und ab und auf und ab. Der Februar 2010 ist der dritte Monat eines ein Jahr währenden Selbstversuchs in Sachen guter, richtiger, gerechter, ethisch vertretbarer Ernährung, den die Schriftstellerin Karen Duve unternommen hat. Die Regisseurin Kristina Brons bringt Duves Bestseller „Anständig essen“ jetzt in der Bremer Schwankhalle auf die Bühne.

Glaubackers Handbewegung ist nicht nur eleganter Zeitraffer, sie zeigt auch, was man auf der Bühne machen kann mit einem Buch. Glaubacker fungiert als Erzähler, rückt den Text also weg von der Buchvorlage und auch weg von der realen Karen Duve, die in Brandenburg auf dem Land lebt. Und darum auch nicht kommen kann zur Premiere. Sie habe keine Sitter gefunden, die während ihrer Abwesenheit auf ihre Tiere aufpassen, richtet Dramaturgin Anja Wedig aus.

Wie ethisch kann ich eigentlich essen? Bei einer „Hähnchen-Grillpfanne“ für 2,99 nehmen Buch und Bühnenadaption ihren Ausgang. Der Einspruch der Kreuzberger Mitbewohnerin Kerstin – „Qualfleisch!“ – sowie retinale Erinnerungen an Hühnerhaltungsdokus im TV-Spätprogramm verhindern den Verzehr. Dem Unbehagen folgt die Frage: Bin ich schlecht? Und warum? Und wie lässt sich das ändern?

Die Bühne hätte gut ein Präsentierteller sein können, denn Duves Klärungsversuch kommt um gelegentliche Selbstanklage nicht herum. Tatsächlich aber spielt das sechsköpfige Ensemble auf einem blaubespannten Podest-U, um das herum das Publikum sitzt. In einer Ecke steht noch ein Klavier, der Requisiten-Einsatz bleibt über gut hundert Spielminuten hinweg sparsam. Als mehrstimmige Textfläche blättert Regisseurin Brons das Buch durch – um es schließlich mit wohlwollender Ratlosigkeit wieder zuzuklappen. Das Stück endet – nach erneuter Aufzählung der Zukunftsoptionen – mit einem dreistimmig-nachdenklichen „Hm“.

Agnes Jaworek spielt die mitunter bockige, aber auch neugierige Karen. Janine Claßen die quirlige und beständig penetrant nachhakende Kerstin. Als zwei Figuren eingeführt, könnte es sich aber auch um Ego und alter Ego auf der Suche nach einer neuen, irgendwie gerechteren Identität handeln. Nicht umsonst nennt Karen Kerstin meist Jiminy Grille – nach dem nemesisartigen Begleiter von Pinocchio im Disney-Film.

Gemeinsam geht es durchs Jahr – von der Biosiegelsuche über die einfache Fleisch- und die vegane Variante bis zum gar nicht fröhlichen Fruitariertum. In schöner Schauspielschlichtheit wird Zeit gerafft. Stakkatoartig wird das Schwierigkeits-Crescendo der jeweiligen Monatsvorgaben ausgetauscht.

Hinreißend Claßens Bioladen-Solo, in dem die Freude darüber, dass man sogar die Frage, ob Mineralwasser denn wirklich „bio“ ist, entspannt stellen kann, so jäh wie nachdenklich beim Bezahlen endet: „7,99 für das bisschen Hackfleich… Vielleicht ist das der echte Preis?“ Schön auch eine Sequenz, in der Jaworek über – aus dem Nahrungsraster gefallene – Cola zunehmend deliriert und dabei auf einem der Podeste herumtrommelt wie auf einer Tastatur.

Vielleicht hätte es der Inszenierung gut getan, die hinter Duves Doppel-Subjekt mit seinen Fragen und Bemühungen stehenden Strukturen in das eine oder andere Bild zu bringen. So hätte der strapaziöse Familienbesuch, als zeitweilige Veganerin zwischen lieb-verständnisloser Mutter, dem selbstgerechten Landwirtschaftsminister-Schwager und dem in der Ölbranche tätigen Bruder, deutlichere Übersetzung ins Körperliche vertragen können.

In den guten Momenten mischt sich in die Theaterguckstille ein Quantum Betretenheit: Alles, was man hier erfährt, können wir schon lange wissen. Ein Aufklärungs- und Informationsabend kann und will „Anständig essen“ nicht sein. TIM SCHOMACKER

„Anständig essen“ ist vom 21. bis 24. September und vom 12. bis 15. Oktober zu sehen