Er verficht den Toyotismus

HAUSBESUCH Vor 30 Jahren lernte er die Liebe seines Lebens kennen. Vor 28 Jahren verlor er sie. Heute existiert sie noch in seiner Vorstellung. Man müsse das Alleinsein aushalten, sagt er. Seine neuste Leidenschaft : bronzene Glocken

VON SIMONE SCHMOLLACK
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Eine kurze Einbahnstraße in Berlin-Schöneberg, weit und breit kein freier Parkplatz. Gründerzeitbauten und Betonhäuser neueren Datums. Hier wohnt Erik von Senftenberg, 70, seit 1981.

Draußen: Senfgelbes Gebäude mit Balkonen zur Straße. Manche bepflanzt, andere nicht. Das Treppenhaus mit Kokosläufern ausgelegt, vor mancher Wohnungstür stehen Schuhe und Stiefel. An einigen Türen hängen Trockenkränze.

Drin: Vier Zimmer, Küche, Bad, und noch ein Ankleideraum. Im Esszimmer ein Flügel, darauf Wagner-Noten, und eine in Zellophan gehüllte körpergroße Frauenstatue. Zwei Zimmer – durch eine Flügeltür miteinander verbunden – sind japanisch eingerichtet: Seidenüberwürfe auf Bett und Couch, Paravents und Lampen aus Japanpapier. Bücher über japanische Mythen und die Geschichte des Landes, Feng Shui und japanische Ikonografie. Romane japanischer Autoren. Ein Ausreißer: Simone de Beauvoirs „Le deuzième sexe“.

Was macht er? Kurz nach seinem 65. Geburtstag, das war 2009, gründete er ein Unternehmen. „Ich bekomme zwar eine Rente, aber ich bin kein Rentner.“ Er berät kleine und mittelständische Unternehmen, wie diese besser mit Kunden, deren Wünschen und Beschwerden umgehen können. Das übt er mit ihnen anhand einer japanisch inspirierten Teezeremonie: Wie bediene ich jemanden zuvorkommend? Wie bilde ich schöne Sätze? Wie schenke ich Aufmerksamkeit und verbinde das mit meinem Anliegen?

Vom Mensch zum Ding: „Jeder Kundenkontakt sollte gastvoll und elegant sein.“ Er nennt es den Toyotismus des Verkaufens: Der japanische Autobauer Toyota sei deshalb führend in der Welt, weil er nach wie vor logistisch raffinierter arbeite als andere Automobilfirmen. Toyota produziere das, was ihm der Kunde auftrage. Und nicht wie sonst üblich, Autos auf Lager zu bauen und dafür die passenden Kunden zu suchen. „Wer dieses Denken in die Firmenstruktur einbaut, gewinnt.“

Vom Ding zum Erfolg: In seiner Teezeremonie hat alles seinen Platz: Teelöffel, Teetasse, Teedose. „Ich kann blind nach den Dingen greifen. Das ist entfernt logistisch und spart Zeit und Kraft. Das ist das ganze Geheimnis.“

Erik von Senftenberg: Geboren in der niederschlesischen Oberlausitz, heute Polen, 30 Kilometer östlich von Görlitz. Er studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Paris, Tübingen und Berlin, promovierte und habilitierte. Er war wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität Berlin, freier Mitarbeiter des Berliner Senats, Privatdozent. Bis 2009 war er Professor für Unternehmensethik und -kultur an der Hochschule Lausitz in Senftenberg. Er gründete für die Stadt ein Kulturinstitut und einen Knabenchor und verhob sich an dem Versuch, das Renaissanceschloss auferstehen zu lassen. Er erklärte sich eigenmächtig zum Botschafter dieser Stadt und nennt sich „von Senftenberg“.

Noch mehr Ideen: Er wollte auch das regionale Gewerbe fördern und in der Kunstgießerei Lauchhammer, einer Kleinstadt rund zwanzig Kilometer von Senftenberg entfernt, sieben Glocken für die Frauenkirche in Dresden gießen lassen. Ein Sachse kam ihm zuvor, aber von Senftenberg entdeckte seine Liebe zu bronzenen Glocken.

Glocken: Auf eigene Faust ließ er 2012 in Lauchhammer zwei „Toleranzglocken“ für das Fortunaportal in Potsdam gießen. Das Portal hatte TV-Moderator Günther Jauch 2002 als Privatsponsor als ersten Teil des künftigen Stadtschlosses wieder aufbauen lassen. Von Senftenberg: „Meine Glocken gehören da hinein.“ Er verhandelte mit dem Landtag, die Glocken sollten nicht zu religiösen Anlässen erklingen, sondern zu politischen, immer dann, wenn es um Toleranz geht. Dafür hat er sein Haus in Senftenberg verkauft, 50.000 Euro stecken mittlerweile in den Toleranzglocken. Alles sah gut aus, bis der Landtagspräsident doch den Rückzieher machte.

Man muss warten können: Von Senftenberg ließ die Glocken einlagern, in der Nähe des Fortunaportals, und wartet nun auf den richtigen Augenblick. Demnächst will er eine dritte Glocke gießen lassen.

Das letzte Date: Ist 30 Jahre her. Sie lernten sich in der Staatsbibliothek kennen. Er stammelte sie an, sie beachtete ihn nicht. Schließlich erhörte sie ihn. „Sie war die süßeste Liebe, die ich je hatte.“ Zwei Jahre waren sie ein Paar, dann verließ sie ihn. „Aus gutem Grund: Sie wollte heiraten und Kinder haben, ich nicht.“ Eine „goldene“ Entscheidung, wie er immer noch findet. „Diese zauberhafte Beziehung war zu schade, um sie in die Niederungen der Ehe und des Alltags hinabgleiten zu lassen.“

Erinnerung: Übrig geblieben ist die Erinnerung an ihr „junges, frisches Gesicht“ und ein Tafelservice mit Rosenmotiv für zehn Personen. Das hatte er als Mitgift gekauft. Darauf serviert er seinen Gästen bis heute Sushi, italienische Vorspeisen, Pasta, Pralinen. „Es wegzuwerfen, wäre ein Frevel. Schließlich war ich ja nicht enttäuscht von der Trennung, sondern beglückt.“

Einsamkeit: Er sei, sagt er „viel allein, aber nicht einsam.“ Wenn er abends nach Hause kommt, nach einem langen Tag in der Bibliothek, in der alle still vor sich hin arbeiten, findet er es erholsam, mit niemandem reden zu müssen. Beim taz-Gespräch indes redet er wie aufgezogen. „In der Bibliothek ist man mit vielen Menschen zusammen, das reicht mir. Abends noch Krach? Bitte nicht.“

Alltag: Jede Nacht wacht er zwischen 3 und 4 Uhr auf. Dann spielt er auf seinem Silent Piano (steht im Schlafzimmer), liest, schreibt. Nach zwei Stunden geht er wieder schlafen, um dann gegen 9 Uhr richtig aufzustehen. Dann macht er erst einmal genau 33 Sit-ups, 33 Liegestütze, 33 Expanderübungen. Warum 33? „Einfach so.“ Er frühstückt – das Gedeck stellt er schon am Vorabend auf den Küchentisch –, duscht und geht in die Bibliothek. Er schreibt am zweiten Band seiner Habilitationsschrift über das „Theatrum Belli“, das „Kriegstheater“ des Barock und Rokoko.

Wie finden Sie Angela Merkel? „Je entschiedener Merkel gegen Russlands Machthaber Putin auftritt, desto sympathischer wird sie. Es ist würdelos, wie Putin Europa behandelt, er spielt mit uns Katz und Maus. Merkel zeigt jetzt klare Kante, bleibt aber in Dialogbereitschaft. Gut!“

Wann sind Sie glücklich? Manchmal steht er in seiner Küche, hört Wagner auf einer Schallplatte und denkt an seine „stumme Geliebte“. „Unsere Beziehung bestand nur aus Koseworten.“ Er nennt sie leise bei einem dieser Namen und ist froh, dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist. „Der Mensch muss lernen, verlassen zu werden. Wem das gelingt, der ist aus dem Gröbsten raus.“

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