Sozialpolitischer Bumerang

UKRAINE Der ökonomische Druck auf die Bevölkerung könnte über den Umweg Russland gut für alle sein und zu einer sozialeren Politik der EU führen

VON ERHARD STÖLTING

Die ukrainische Regierung bereitet ein rigoroses Reformprogramm vor, das einerseits Forderungen der EU berücksichtigt, andererseits der ohnehin armen Bevölkerung erhebliche Opfer abverlangen wird. Die 15 Milliarden Dollar, die die Regierung an Krediten fordert, werden allerdings kaum hinreichen. So gibt es noch verkäufliches Staatseigentum und unverkauftes Agrarland für ergänzende Zahlungen. Vor allem aber gibt es eine Bevölkerung, deren Opferbereitschaft noch nicht gänzlich ausgetestet wurde.

Gegenwärtig hat die Ukraine ein Sozialsystem, das sie eigentlich nicht bezahlen kann. Die Aufständischen auf dem Maidan 2013/14 hatten sich noch den Weg zu dänischen Verhältnissen erhofft: Rechtsstaatlichkeit, Eindämmung der Korruption, eine problemlos funktionierende Marktwirtschaft ohne postsowjetische Oligarchen und einen allgemeinen Wohlstand. Ein Beitritt zur EU war für die Mehrheit gleichbedeutend mit der nationalen Befreiung von einem Russland, das nach allgemeiner Auffassung seit eh und je die Missstände verantwortet, an denen die Ukraine litt und leidet.

Gelungen ist dank des Maidans die Durchsetzung demokratischer Freiheiten und entsprechender Reisemöglichkeiten. Die Mitgliedschaft in der EU und der Nato erscheint nicht mehr als Frage des Prinzips, sondern als eine des Zeitpunkts. Die jetzigen Ankündigungen, das Sozialsystem zurückzuschneiden, könnten das Projekt allerdings in Turbulenzen bringen. Die USA, vor allem aber die EU, könnten unverhofft unter Druck geraten.

Denn die Begeisterung innerhalb der ukrainischen Bevölkerung für die EU könnte besonders in den ärmeren Teilen zu bröckeln beginnen und die antirussischen Einstellungen vor allem in der östlichen und mittleren Ukraine dämpfen. Die wirkmächtig russische Propaganda wird sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Immerhin ist Russland trotz aller Krisen reicher als die Ukraine.

In dieser Situation darf der Westen nicht unsensibel bleiben. Denn wirtschaftlich wie geostrategisch ist die Ukraine für den Westen wichtiger als beispielsweise die Problemländer Griechenland oder Portugal.

Die Demonstranten auf dem Maidan haben Meinungsfreiheit und das Ende politischer Repressionen bewirkt. Der Wunsch nach vollständiger politischer und wirtschaftlicher Abkapselung von Russland lässt sich hingegen nur schrittweise durchführen; das Reformprogramm Jazenjuks ist auf dem Weg. Die Entmachtung der Oligarchen war eine Forderung, die sich indes im Oktober 2014 erledigt hat; sie wurden in freien Wahlen wiedergewählt. Der Wunsch nach besseren materiellen Bedingungen musste zurückgestellt werden; mit einer Verschlechterung solchen Ausmaßes haben allerdings nur wenige gerechnet.

Eine soziale Krise etwa griechischer Dimension und entsprechende Protestbewegungen kann sich die EU in der Ukraine nicht leisten. Schon jetzt ist die ukrainische Wirtschafts- und Sozialpolitik keine rein nationale Angelegenheit mehr, sondern eine europäische. Die EU muss viel Geld bereitstellen, um die Frustrationen nicht weiter wachsen zu lassen.

Sollte es aber entsprechend zu massenhaften sozialen Protesten in Kiew und anderswo kommen, läge darin auch eine Chance. Das Prinzip, die Bevölkerung für missglückte Strategien von Banken und Wirtschaftspolitikern zahlen zu lassen, stünde zur Disposition. Die erwartbare russische Propaganda würde nämlich rasch in einen unerwarteten Wirkungszusammenhang geraten: Sie könnte indirekt und ungewollt einen Reformschub in der EU auslösen, den die Finanzkrise seit 2008 bisher nicht zustande gebracht hat. Entstünde dann ein sozialpolitisch motiviertes Hilfsprogramm für die Ukraine, würden entsprechende Forderungen auch in den südlichen Ländern der EU lauter. Abbügeln ließen sich diese dann nicht mehr so leicht – kein so schlechtes Szenario also.