Von Abu Ghraib nach Moabit

THERAPIE Viele Flüchtlinge leiden unter unbewältigten Traumata. Im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer finden sie Hilfe. Doch die Kapazitäten reichen nicht

AUS BERLIN GABRIELA M. KELLER

Ein Mensch, der die Folter erlebt hat, wird ihr nicht mehr entkommen. Sie wird sich in seine Träume schleichen und in seinem Kopf immer wieder die Bilder ablaufen lassen, die er so sehr vergessen will. Sie wird ihm folgen, egal wohin er flieht. Und deswegen wird es für Mechthild Wenk-Ansohn immer mehr Arbeit geben, als sie bewältigen kann.

„Eine schwere Traumatisierung bleibt Teil der eigenen Geschichte“, sagt sie. „Was wir erreichen können, ist, dass die Betroffenen ihre Erfahrungen besser verarbeiten können, damit sie den Kopf frei haben, ihr Leben hier anzupacken.“ Die Ärztin und Psychotherapeutin leitet den Bereich Ambulante Dienste am Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin (bzfo).

Sie sitzt in der Ecke ihres Büros, deutet über die Schulter hinter sich. Draußen ist der Nachmittagshimmel schon tintenblau angelaufen. Die Backsteingebäude auf dem Gelände des alten Krankenhauses Moabit sind nur noch als Schemen zu erkennen. Gegenüber ragt im Halblicht ein Büroturm auf; die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber ist darin untergebracht. Wenk-Ansohn sieht jeden Morgen, wie die Flüchtlinge in langen Schlangen vor der Tür anstehen. Viele von ihnen werden später im bzfo um Hilfe bitten. Derzeit gehen dort jede Woche 10- bis 15-mal mehr Anfragen ein, als Plätze zur Verfügung stehen.

Neben der Tür stapeln sich Akten auf einer Liege, darunter steht ein Karton voll mit Kuscheltieren. „Wenn Patienten mit ihren Kindern kommen“, sagt die Ärztin, „dann fragen wir die Eltern, wie es denen geht, schauen, wie die spielen – und ob sie auch Hilfsangebote brauchen.“

Das bzfo wurde 1992 gegründet. Jedes Jahr werden dort 400 bis 500 Menschen behandelt, die Folter und Kriegsgewalt überlebt haben. Derzeit kommen vor allem Syrer, Somalier, Afghanen und Tschetschenen. Fast alle von ihnen, sagt Wenk-Ansohn, leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Schlafstörungen, Depressionen, Selbstmordgedanken und Flashbacks. „Das Trauma ist ja mit der Flucht aus dem Heimatland nicht zu Ende.“ Zum Schrecken des Krieges kommt die gefährliche Reise über das Meer, die Ankunft auf einem Kontinent, wo Flüchtlinge nicht willkommen sind. Viele erleben bei ihrer Einreise erneut Gewalt, prügelnde Polizisten, Leibesvisitationen. Ohnmacht. Angst. Eine Dauerschleife der Retraumatisierung, die auch in Deutschland nicht endet.

Viele der Flüchtlinge wissen nicht, ob sie bleiben können. Die Gutachten und Berichte der Mitarbeiter können ihnen in ihrem Asylverfahren helfen, bieten aber keine Gewissheit. Denn wer Europa über Italien oder Bulgarien erreicht hat, kann dorthin abgeschoben werden.

Das Behandlungszentrum finanziert sich zur einen Hälfte aus öffentlichen Geldern des Bundes, der EU, der UN und zur anderen aus Spenden. Es ist immer zu wenig, sagt Wenk-Ansohn. Und je stärker die Zahl der Flüchtlinge steigt, desto größer klafft die Lücke zwischen Hilfebedarf und Hilfsangebot.

Jedes der bundesweit 25 Behandlungszentren für Folteropfer müsse Jahr für Jahr sehen, wie es die Finanzierung zusammenstückelt, sagt Urs Fiechtner, Sprecher von Amnesty International Ulm, der das Behandlungszentrum für Folteropfer in seiner Heimatstadt mitgegründet hat: „Die Traumatisierung entsteht auch durch die maximale Demütigung, die die Opfer erfahren. Und es kommt noch ein Vertrauensproblem dazu: Die meisten sind gar nicht in der Lage zu erzählen, was ihnen widerfahren ist.“ Deswegen bräuchten die Betroffenen spezialisierte Therapeuten. Zu einer regulären Therapie hätten Asylbewerber ohnehin nur schwer Zugang – zumal ein Dolmetscher grundsätzlich nicht bezahlt wird.

Deutschland habe die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet und sich damit verpflichtet, den Opfern eine Rehabilitierung zu ermöglichen, sagt Fiechtner. Aber der politische Wille fehle: „Einerseits gibt es große regionale Unterschiede. Anderseits sind die vorhandenen Zentren nicht in der Lage, neue Leute einzustellen.“

Gerade im Osten fehlen Angebote. Daher kommen die Anträge, die beim bzfo eingehen, nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Jeder, der Hilfe sucht, wird zum Erstgespräch eingeladen. Anschließend verteilen die Mitarbeiter aber nur so viele Therapiezusagen, dass sich höchstens Wartezeiten von drei bis sechs Monaten ergeben.

Im Flur des bzfo fällt kaltes Neonlicht über Kopierer und Pflanzen. Neben den ambulanten Therapien gibt es eine Tagesklinik mit 14 Plätzen. Insgesamt arbeiten rund 60 Fachkräfte am bzfo, Psychologen, Psychiater, Ärzte, Sozialarbeiter, Dolmetscher. Den Patienten stehen Kreativtherapien und ein Musikraum zur Verfügung, dazu ein Garten, in dem sie Beete anlegen können.

Im Flur warten die Patienten, alte und junge Männer, Frauen mit und ohne Kopftuch. Etwa ein Dutzend Patienten kauert auf Holzstühlen; reglos, in sich versunken. Eine Araberin im Bleistiftrock hockt neben einem Alten mit zerfurchtem Gesicht, der seine Wollmütze nicht abgenommen hat. Der Kopierer surrt, die Kaffeemaschine gurgelt. Die Räder eines Kinderwagens, den eine junge Frau über das Linoleum schiebt, quietschen leise.

Mit kräftigem Schwung öffnet Mercedes Hillen die Tür ihres Büros. Die Geschäftsführerin und ärztliche Leiterin des bzsfo hat nicht viel Zeit. Sie lässt sich an einem Besprechungstisch nieder und fasst die Ziele des Zentrums in kurze, schnelle Sätze. „Es ist schön und gut, die Menschen hier zu stabilisieren. Aber was passiert dann? Die sollen ja auch in der Gesellschaft ankommen.“

Deswegen versuchen die Mitarbeiter auch, die Flüchtlinge beim Deutschlernen oder der beruflichen Qualifizierung zu unterstützen. Zugleich ist Hillen ständig mit der Frage befasst, wie sie die Kapazitäten möglichst weit strecken kann; etwa durch Kooperationen wie die mit der Charité.

Als der Zustrom der Asylbewerber aus Syrien Ende 2013 drastisch zunahm, richtete das Zentrum ein Akutprogramm ein, um den oft schwerst traumatisierten Menschen schnell eine therapeutische Nothilfe zu bieten.

„Das Schlimme ist, dass wir nicht arbeitslos werden“, sagt die Leiterin. Der Bedarf werde eher noch steigen. „Wenn Sie nichts tun, chronifizieren sich die Traumata, die Leute werden in Heime gesteckt, bestenfalls mit Medikamenten versorgt, und dann gibt es für sie oft über Jahre keinen Zugang zu einer Therapie.“

Die Psychotherapeutin Mechthild Wenk-Ansohn kennt sich inzwischen bestens aus mit den Grausamkeiten, die Menschen einander antun. Sie arbeitet seit rund 20 Jahren mit den Opfern. „Die Art der Folter verändert sich“, sagt sie. In den 90er Jahren sei auch in Ländern wie der Türkei noch schwer körperlich gefoltert worden. „Das hat sich zum Teil verschoben ins Psychologische. Diese Methoden sind verfeinert worden.“ Dazu gehören Schlafentzug, Beschallung mit Musik, die Androhung von Gewalt, Scheinhinrichtungen. Techniken, wie sie auch die CIA angewendet hat, um Terrorverdächtige gefügig zu machen. Psychologische Folter lässt sich zwar schwerer nachweisen. An den Opfern aber hinterlassen sie ähnliche seelische Verletzungen, als hätten die Täter ihnen körperliche Schmerzen zugefügt. Inzwischen gab es am bzfo schon zwei Patienten, die in US-Gefängnissen gefoltert wurden, einer in Abu Ghraib im Irak, einer in Bagram, Afghanistan.

Auch für die Fachkräfte bedeuten die Geschichten, die sie hören, eine Belastung. Wer ständig vom Leid umgeben ist, kann selbst Schaden nehmen. „Man bekommt vieles mit“, sagt Wenk-Ansohn, „aber was mich am meisten schockiert, ist, dass die, die es schaffen zu fliehen, nicht in Sicherheit kommen, sondern dass sich das Trauma perpetuiert und damit chronifiziert. Das ist schwer zu akzeptieren.“