Die Hartz-IV-Person

Die 49-Jährige ist seit dem 12. 10. 2005 Mitglied der Bundestagsfraktion DIE LINKE. Reinke zog über den 5. Listenplatz auf der Landesliste Sachsen-Anhalt ins Parlament, in ihrem Bundesland erreichte die Linkspartei bei der vergangenen Bundestagswahl satte 25,5 Prozent.

Fünf Reden hat Reinke im Bundestag gehalten. „Ich war schon auf den Montagsdemos nicht so die Sprecherin, hab’ lieber hinter den Kulissen die Fäden gezogen“, sagt sie.

Geboren wurde die gelernte Elektroingenieurin am 2. Mai 1958 in Großkorbetha im Kreis Weißenfels. Sie ist Mutter zweier Kinder. Mit der Wende verlor sie ihren Arbeitsplatz. 14 Jahre hatte Reinke keine feste Anstellung mehr, dann zog die ALG-II-Empfängerin als erste Langzeitarbeitslose in den Bundestag.

Reinke vertritt ihre Fraktion im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ und im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

VON KONRAD LITSCHKO

Sie redet zu schnell, aufgeregt, echauffiert sich – sogar hier bei ihren Leuten. Hier in Aschersleben. Hier auf der Montagsdemo. „Wir wissen alle, was Hartz IV gebracht hat“, ruft Elke Reinke ins Mikro. Und das Häufchen Ascherslebener, das zur 159. Montagsdemo auf den Holzmarkt gekommen ist, weiß, was „Elke“ meint: leere Taschen, Drangsalierung durch Arbeitsämter, aufgezwungene 1-Euro-Jobs. „Der Mensch wird ausgepresst wie ein Schwamm. Aber so leicht lassen wir uns nicht unterkriegen.“

Das wird mit Applaus belohnt. Deutlich mehr als für die anderen Redner vor ihr. Vielleicht weil Elke Reinke ein bisschen so etwas wie der Star unter den Ascherslebener Montagsdemonstranten ist. Denn eigentlich gehört sie gar nicht mehr hierher.

Elke Reinke sitzt seit zwei Jahren im Bundestag. 7009 Euro brutto im Monat, sie ist aus ihrer Plattenbauwohnung ausgezogen, hat sich flott gemacht: rot gefärbter Kurzhaarschnitt mit blonden Strähnen. Weiße Bluse über dem roten Top, dazu Jeans und mintgrüne Turnschuhe. Nichts erinnert mehr an Hartz IV. Eine „richtig schicke Frau“ sei sie seit ihrem Bundestagseinzug geworden, lobt auch der Linkspartei-Fraktionsvize Bodo Ramelow.

Es war eine faustdicke Überraschung, ein Schock, als klar war, dass Elke Reinke im September 2005 tatsächlich ein Bundestagsmandat gewonnen hatte. Die frisch zusammengepackte Linkspartei hatte bundesweit 8,7 Prozent der Stimmen eingefahren, in Reinkes Bundesland Sachsen-Anhalt sogar satte 25,5 Prozent. Das reichte auch für den Listenplatz 5 des Landesverbands zum Einzug in den Bundestag. Es war Elke Reinkes Platz.

Gerade mal ein gutes Jahr zuvor hatte sie sich überhaupt zum ersten Mal an der Ascherslebener Montagsdemo beteiligt, war erst im Februar 2005 in die WASG eingetreten. Seit vierzehn Jahren hatte die heute 49-Jährige in keiner festen Anstellung mehr gearbeitet. Und plötzlich war Elke Reinke die erste Langzeitarbeitslose im deutschen Parlament. Presse, Radio, selbst Fernsehteams aus Spanien oder Japan rissen sich um die Aschenputtel-Geschichte.

Es waren mehr als turbulente Monate für die vorher so beschaulich im 26.000-Einwohner-Aschersleben wohnende, alleinerziehende Mutter. „Es gibt eine Million Menschen, die trotz Arbeit Hartz IV beziehen“, liest sie heute mit ihrem sachsen-anhaltischen Akzent vom Zettel auf dem heimischen Holzmarkt ab. „Und das ist nur die offizielle Zahl. Die Menschen werden kaputtgespielt, das ist schlimm.“ Sie hört sich ehrlich zornig an, wenn sie das sagt. Und etwas hilflos.

Es ist eine wenig anregende Kulisse, die sich ihrem Protest an diesem Montag bietet. Nicht einmal eine richtige Demo findet heute statt. Knappe 20 Prozent betrug Ende Juli die Arbeitslosenquote hier in Aschersleben. 7.933 Einwohner befinden sich auf Arbeitssuche, rund 50 von ihnen sind heute auf den kleinen Platz in der Altstadt gekommen.

Elke Reinke spricht als letztes. Bereits zuvor kündigt Axel Schmidt von der KPD an, dass „wir im Herbst Himmel und Hölle in Bewegung setzen werden“, um den Unmut über die verkorkste Arbeitsmarktreform zu zeigen. Auch der arbeitslose Frank Mühle schwingt das Mikro: Er werde der Arbeitsagentur „beim nächsten Mal erst mal eine reindrücken“, hat er doch zuletzt ulkigerweise einen Samstagstermin zugeteilt bekommen und stand wenig überraschend vor verschlossenen Türen. Nach einer halben Stunde ist die 159. Montagsdemo in Aschersleben vorbei, die Leute schieben ihre Fahrräder zurück nach Hause.

„Es ist wichtig, dass man sich weiter trifft“, betont Elke Reinke gleich mehrmals. Zum Austauschen, Helfen, Trösten. „Das ist ein richtig fester Stamm, wie eine große Familie.“ Irgendwie auch ihre Familie. Ihre Mitarbeiter für das Wahlkreisbüro stammen aus dem Demo-Spektrum, ihren Mann hat sie für einen der Montagsdemonstranten verlassen. „Sagt mir, wenn ich mich verändere“, hatte sie ihren Protest-Freunden gesagt, bevor sie mit dem Zug in die Hauptstadt fuhr.

Dass sie einmal im höchsten Parlament des deutschen Staates sitzen würde, war in ihrem Lebenslauf eigentlich nicht vorgesehen. Geboren in Großkorbetha, einem Dorf im südöstlichen Zipfel Sachsen-Anhalts, lässt sich Reinke zur Nachrichtentechnikerin ausbilden. Später folgt das Studium zur Elektroingenieurin. Sie arbeitet bei den VEB Chemische Werke Buna, wird 1986 Gruppenleiterin in der Werkzeugmaschinenfabrik in Aschersleben. Elke Reinke heiratet, bekommt Stefanie und Andreas, ihre beiden Kinder, kauft mit der Familie ein Haus. Sie ist zufrieden. Auch mit der DDR. 1979 tritt sie in die SED ein.

„Sagt mir, wenn ich mich verändere“, forderte sie ihren Freunde auf, bevor sie den Zug nach Berlin nahm

„Viele Entscheidungen fielen ja nun auf Parteiversammlungen und nicht in Arbeitsberatungen“, sagt Reinke. „Ich musste zusehen, dass meine Abteilung arbeitsfähig war.“ Es wirkt unbedarft, ungelenk, wenn Reinke über ihre SED-Mitgliedschaft berichtet. Sie habe die Theorie gemocht, sei „wirklich freiwillig“ eingetreten. Sicher habe es auch Fehler der SED gegeben, aber „von vielem wusste ich auch nichts, was da hinter den Kulissen lief“.

Es ist nicht nur die Partei, sondern auch der Job, den ihr die Wende nimmt. Immer und immer wieder versucht Reinke erneut berufstätig zu werden. Sie absolviert Umschulungen, Fortbildungen, belegt Englisch- und Internetkurse, nimmt ABM-Stellen an – allein ein regulärer Arbeitsplatz bleibt ihr ab 1991 verwehrt. „Da hat man schon mal so Momente, wo man sagt: Mein Gott, wofür eigentlich?“ Sie schweigt kurz. „Aber dann hatte ich meine Kinder, die können nichts dafür.“

Eigentlich wollte sie ja nicht einmal mehr in eine Partei. Opposition gegen das Gemauschel „da oben“, Protestaktionen, Kundgebungen – das war seit den Montagsdemos ihrs. Als dann aber die WASG kam, war sie doch dabei. Es war der Frust, immer wieder auf Grenzen des bloßen Straßenprotests zu stoßen. Der Wunsch, selbst einmal etwas zu ändern, anstatt immer nur zu monieren.

Als Elke Reinke im Dezember 2005 ihre erste Rede im Bundestag hält, blickt sie starr auf ihre Zettel. Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, manchmal schielt sie kurz über ihre Brille ins Plenum. Es ist ein Plädoyer für die Angleichung des ostdeutschen Arbeitslosengeldes II auf Westniveau und eine Rede über sich selbst. „Ein Anspruch auf Würde und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist mit 345 Euro kaum möglich. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Reinke verliest sich, stockt, fasst sich mit dem Zeigefinger an die Nase. Manchmal jedoch schmunzelt sie. Die Linkspartei-Kollegen applaudieren heftig. Als sie zu ihrem Sitz zurückkehrt, wird sie von Parteifreundin Diana Golze umarmt.

„Äußerst schwach“, rief ihr die SPD nach Reden hinterher, die CDU lachte. Reinkes engste Fraktionskollegin Diana Golze berichtet von offenem Spott regierender Parlamentarier über eine Kunstlederjacke Reinkes. „Für manche ist Elkes Anwesenheit hier scheinbar unerträglich“, konstatiert Golze bitter. Eine Schonfrist für die Underdog-Exotin – Fehlanzeige.

Also ließ sich Reinke coachen, absolvierte ein Kommunikationstraining, schaute sich Videos ihrer Auftritte an, übte immer wieder ihre Vorträge. „Manchmal müsste ich diplomatischer sein“, findet Reinke. Heute hört man ihr zumindest in den Ausschüssen ruhig zu, wo anfangs Kollegen aus den anderen Parteien aufstanden und Kaffee holten, sobald Reinke anfing zu sprechen. „Sie ist härter geworden“, bemerkt Golze.

Die Fraktionsspitze der Linkspartei jubelt derweil über ihre „Vorzeigefrau“. Reinke sei die „lebende Hartz-IV-Person“, so Parteivize Bodo Ramelow. Eine Bereicherung für die Partei, ein Gewinn an Authentizität und eine Stärkung der Verbindungen zu außerparlamentarischen Bewegungen.

Es ist nicht mal Sachsen-Anhalt, es ist zu Hause in Aschersleben, wo Reinkes Politik eigentlich stattfindet. Sie mag es konkret, praktisch – Klientelarbeit für die Abgehängten. Wenn es sein muss, auch gerne weiter plakativ. Obwohl schon im Bundestag, zeltete sie vor der Ascherslebener Arbeitsagentur oder verteilte Einwegrasierer, als SPD-Chef Kurt Beck gegen die ungepflegte Unterschicht wetterte.

Dass sie einmal im Bundestag sitzen würde, war in Reinkes Lebenslauf eigentlich nicht vorgesehen

Fragt man sie nach bisher Erreichtem, sind es die lokalen Errungenschaften, die sie nennt. Zum Beispiel das neu gegründete Sozialforum Aschersleben. Nur eine Schaufensterscheibe neben ihrem Wahlkreisbüro befindet sich der Verein. Arbeitslosenfrühstück, Handarbeitskurse, mittwochs Gedächtnistraining. Das Sozialforum war Reinkes Traum. Heute kann sie ihn finanzieren. Auch ihr Büro steht den Ascherslebener Sozialprotestlern offen: Reinke lässt bei sich Flyer kopieren, spendiert Bahnfahrkarten zu Demonstrationen, fragt in der Arbeitsagentur mal nach, wenn’s wieder Probleme gibt. Eigentlich will sie darüber gar nicht reden. „Man kann nicht allen helfen. Aber kleine Löcher kann man stopfen.“ Manch einer hatte sich da mehr erhofft. Jetzt, da es der Frau Reinke so gut geht. „Es werden immer weniger Freunde mit der Zeit“, bemerkt Reinke. Manche seien neidisch, manche schämen sich, manche sähen sie nun im Establishment. Reinke will es auch ihnen Recht machen. Und sagt inzwischen Sätze wie: „Ein Linker muss nicht arm sein. Er muss was für die Armen tun.“

Dabei braucht sie nicht lange zu suchen – ihre Klientel kommt von allein. Heute ist es eine ältere Arbeitslose, die in Reinkes Sprechstunde sitzt. Seit elf Jahren stünden ihr Gelder ihres letzten Arbeitgebers, der ehemaligen Rundfunkgeräte-Fabrik in Staßfurt, zu, wettert sie. Elke Reinke schreibt manches mit, sagt: „Das ist eine Schweinerei.“ Sie werde mal telefonieren. Ihr Mitarbeiter Tobias Pochanke schüttelt den Kopf. „Zu uns kommen die Leute immer als Letztes.“

Pochanke, auch er ist so ein Fall. Erst Gastronom, dann arbeitslos, Call-Center-Job, wieder arbeitslos. Als sich Elke Reinke durch die Bewerbungen für ihre Mandatsbüros kämpfte, entschied sie sich letztlich für die Bewerber „mit Herz, die was für die Menschen verändern wollen“. Pochanke war dabei. „Ein Glücksgriff“, wie er heute sagt. Er verstehe sich mit Reinke bestens.

Als Reinke am Vormittag ins Nachbardorf Hecklingen düst, ist Pochanke auch dabei. Bürgermeister Hans-Jürgen Borchmann soll ihr etwas über das Projekt Bürgerarbeit in seinem Ort erzählen. Auch die drei Vertreter der Trägergesellschaften für die gemeinnützigen Jobs sitzen im holzgetäfelten Rathaussaal. Reinke moderiert das Treffen, hält das Gespräch am Laufen. Hin und wieder referiert sie Forderungen der Bundestagsfraktion: Mindestlohn, Abgabe für Nichtausbildungsplätze, Hartz-IV-Widerstand. Bürgermeister Borchmann redet derweil von lokalen Jugendlichen, die auf dem neuen Spielplatz Remmidemmi machen. Am Ende geben sich dennoch alle zufrieden die Hand.

Erst am Abend ist Elke Reinke wieder richtig zu Hause. Auf dem Holzmarkt. Auch als nach der Montagsdemo schon fast alle gegangen sind, plaudert sie noch in kleiner Runde. Ob sie sich verändert hat? Die Runde schüttelt den Kopf. „Höchstens das Selbstbewusstsein zum Positiven gestärkt“, wirft KPD-Mann Axel Schmidt ein. Dass Aschersleben eine der letzten deutschen Städte ist, wo überhaupt noch Montagsdemos stattfinden – nein, das habe nichts mit Elke zu tun. Man sei hier einfach kreativer als in anderen Gemeinden. Von nun an wolle man bei jeder Wahl „einen reinbringen“, lachen sie. Frank Mühle, der kräftige Arbeitslose, schmunzelt nur kurz. Im Bundestag arbeiten „wäre ein Traum“, sagt er. „Da könnte man was bewirken, da hat man Verantwortung.“