„Ich bin ein Glückskind“

DER NEUGIERIGE Willy Rogalla, Vertriebener aus Masuren und bekennender Autodidakt, hatte sein Leben lang Glück mit den Frauen. Hanna lebte und arbeitete 40 Jahre an seiner Seite, Hedda ist seit Jugendtagen seine bibliophile Wahlverwandte – und Sigrid, seine erste Liebe, hat der 80-Jährige vor zwei Jahren wiedergefunden

   ■ Kindheit und Jugend: Willy Rogalla ist 1934 geboren in einem Dorf in Masuren. Sein Abitur macht er 1955 in Gelsenkirchen, drei Jahre Schulzeit hat er durch Zwangsarbeit in Polen verloren. Er studiert in Germersheim Übersetzer für Englisch und Spanisch. Beim Studium lernt er seine erste große Liebe kennen, Sigrid, dann seine spätere Frau, Hanna.

■ Arbeit: Mit Hanna arbeitet er 37 Jahre fürs Goethe-Institut, unterrichtet Deutsch für Ausländer, unter anderem in Schweden, Dänemark, Norwegen und Singapur. Zusammen schreiben sie in den 70er Jahren das Buch „Reading German for academic purposes“. 1997 gehen sie in den Ruhestand. 2000 stirbt Hanna.

■ Alter: Um sich zu trösten, verbringt Willy Rogalla viel Zeit bei Freunden in Warschau, lernt Polnisch, forscht zusammen mit einer polnischen Jiddisch-Professorin. Ende 2015 wird in Polen ein Buch herauskommen über einen 1604 erschienenen jiddischen Gesundheitsführer, den Rogalla mit entdeckt hat. Er reist viel umher, kommt immer wieder nach Berlin. 2012 übersiedelt er endgültig von Göttingen in die Hauptstadt und trifft seine Jugendliebe Sigrid wieder. Sooft sie in Berlin ist oder er in Schwaben oder sie auf Reisen gehen, teilen sie seither das „Lotterbett“ und genießen ihr Leben.

INTERVIEW SUSANNE MEMARNIA
FOTOS KARSTEN THIELKER

taz: Herr Rogalla, woher kommt Ihr interessanter Name?

Willy Rogalla: Die Leser von Siegfried Lenz und Johannes Bobrowski werden ihn kennen. Beide benutzen in ihren Romanen diesen Namen, weil er typisch masurisch ist, mit diesem „a“ am Ende, ansonsten aber vollkommen slawisch. Ich bin in einem Dorf mit 25, 30 Häusern in Masuren geboren, eine arme Gegend, nicht sehr fruchtbar.

Ihre Eltern waren Bauern?

Ja, von beiden Seiten. Es war ein einfaches, ärmliches Leben, aber für mich war es paradiesisch, dieses Leben mit der Natur, den Tieren. Ich hatte es leicht in der Schule, weil ich aus irgendeinem Grund schon mit vier, fünf Jahren lesen konnte.

Was haben Sie zu Hause für eine Sprache gesprochen?

Die alten Leute wie meine Großmutter haben noch Masurisch geredet, einen polnischen Dialekt. Mit mir hat sie Deutsch gesprochen, auch meine Mutter sprach Deutsch mit einem, wie man sagte, ostpreußischen Akzent. Aber alle, auch meine Großmutter, waren deutsch bis auf die Knochen – nicht nationalistisch, sondern preußisch. Das lag am Protestantismus. Die Polen, deren Sprache sie sprachen und mit denen sie auf den Märkten Handel trieben, waren katholisch – und ein richtiger Mensch kann nicht katholisch sein. Deshalb wollten die Masuren bei der Völkerbundabstimmung 1919 auch zu 99 Prozent nicht zu Polen gehören.

Und 1945 kam die Vertreibung.

Ja, aber vorher haben die Polen uns gedrängt zu bleiben, auch meine Großmutter, die ja besser Polnisch als Deutsch konnte. Wir seien doch alle von einem Volk und sollten unterschreiben – also die Nationalität wechseln.

Aber Ihre Eltern wollten nicht unterschreiben?

Nein, natürlich nicht. Mein Vater war damals schon länger in Amerika als Kriegsgefangener. Meine Mutter und Großmutter wollten nichts mit den Polen zu tun haben. Sie wollten weg – aber das war nicht einfach in dieser schrecklichen Zeit. Ich war damals auf dem Gymnasium in Allenstein, 45 Kilometer entfernt von meinem Dorf. Dort war ich mit meinem Vetter in Pension bei einer alten Dame. Am 2. Januar 1945 sagte man uns in der Schule, die Russen kommen, wir sollten nach Hause. Aber der Bahnhof war kaputtgebombt. Zum Glück nahmen uns Soldaten mit, fast bis nach Hause. Dort waren sie schon am Packen für den Treck.

Und war das so schrecklich, wie man immer liest und hört?

Es gab viel Schreckliches. Nach vier, fünf Tagen hielten die Russen unseren Treck an. Die Männer in Uniformen wurden gleich erschossen, Arbeitsfähige wurden aussortiert für die Zwangsarbeit in Russland. Drei polnische Brüder haben uns gerettet, sie haben gesagt, wir seien alle polnische Zwangsarbeiter und wollten in unsere Dörfer zurück – weil meine Großmutter, Mutter und Tante ja Polnisch sprachen. Irgendwann kamen wir wieder, zu Fuß durch den Schnee, bei minus 20 Grad, in unserem Dorf an. Unterwegs sahen wir auf Zaunpfählen menschliche Köpfe aufgespießt, mit Schnee bedeckt. Es gab in diesen Wochen der Racheexzesse vielerlei Gräuel und immer wieder Leichen.

Was haben Sie gemacht?

Monatelang haben wir wie in der Steinzeit gelebt. Es gab ja nichts, alle Tiere waren weg, es gab nichts zu kaufen, keine Milch, kein Arzt. Wir haben Fische gefangen und die Tiere gegessen, die im Wald in unsere Schlingen geraten waren. Wenn russische Soldaten kamen, haben wir uns im Wald versteckt. Im Frühjahr 1946 haben wir uns durch Bestechung einer Sekretärin Papiere besorgt und wollten in den Westen. Aber wir sind in den falschen Zug gestiegen und bei einer Kontrolle fielen wir auf. Wir kamen für ein paar Monate ins Gefängnis, dann haben sie uns zur Arbeit noch ein paar Jahre dabehalten. Bis zum Frühjahr 1948. Alle Deutschen kamen dann in ein Lager in der späteren DDR. Von dort ging meine Familie nach Gelsenkirchen, wo ich am Gymnasium Abitur machte – aber erst mit 21 Jahren.

Wieso haben Sie dann ausgerechnet Sprachen studiert?

Ich wollte so schnell wie möglich einen Abschluss machen. Ich hatte ohnehin drei Jahre verloren, und außerdem musste ich die ganze Zeit nebenher arbeiten. Mein Vater war Hilfsarbeiter in der Stahlindustrie, da habe ich auch gearbeitet. Ich machte dann ein Übersetzer-Studium, Englisch und Spanisch, das dauerte nur drei Jahre. Dazu gehörte auch ein Studium generale mit Philosophie, Geschichte, Volkswirtschaft. Das hat mir eigentlich mehr gefallen. Ich war schon damals sehr neugierig, habe viel gelesen. Auf dem Gymnasium war ich besser informiert als meine Lehrer. Die waren zum Großteil weiter Nazis geblieben – und keiner kannte Franz Kafka, keiner hatte je etwas von Sigmund Freud gehört.

Woher kannten Sie das alles?

Ich machte meine Schularbeiten in einer Bibliothek, weil wir in Gelsenkirchen nur ein winziges Zimmer hatten, wo wir auf dem Boden schliefen und kein Platz für ein Tisch war. Diese Bibliothek war, wie viele solcher Einrichtungen, von den Engländern zur Reeducation eingerichtet worden. Dort saß ich, habe gelesen, etwa den ersten Spiegel, der damals herauskam, aber auch sonst alles, was mir in die Hände fiel. Dazu habe ich mir Bildung übers Radio angeeignet. Damals gab es nur einen Sender, den Nordwestdeutschen Rundfunk, und noch gar kein Fernsehen. Ich habe ja bis heute keinen Fernseher, halte dieses Medium für ein Verblödungsmittel. Im NWDR jedenfalls gab es immer dieses „Nachtprogramm“: Theodor W. Adorno habe ich so kennengelernt, Sigmund Freud, neuere Literatur. Und im Schulfunk nachmittags vieles über Tiere. Ich bin sozusagen Autodidakt.

Wie kamen Sie dann eigentlich zum Goethe-Institut?

Wie so vieles im Leben war auch das Zufall. Im ersten Semester hatte ich Sigrid kennengelernt, meine Jugendliebe, die ich jetzt vor zwei Jahren wiedergetroffen habe. Sie war mir sehr ähnlich. Das ist im Leben sehr selten, dass man so jemanden trifft, wo alles gleich zusammen stimmt, die Werte, die man vertritt, die Gedichte, die man mag. Doch nach einem Sommer war es vorbei, sie hatte ihr letztes Semester und ging fort, nach England. Und ich lernte meine spätere Frau Hanna kennen. Im Nachhinein war das sogar gut, denn sie passte im Alltagsleben wohl besser zu mir.

Inwiefern?

Sigrid war deutlich am Aufstieg interessiert und hat etwa zehn Jahre später noch ein Vollstudium in Musik absolviert. Doch ich wollte ein Leben im Verborgenen, wollte nie auffallen. Ich wollte nie etwas besitzen, keine Eigentumswohnung, nichts. Jemand, der als Kind abgeschnittene Köpfe gesehen hat, glaubt nicht mehr an materielle Werte. Hanna war wie ich. Wir führten eine ideale Ehe, 42 Jahre waren wir Tag und Nacht zusammen. Wir haben gemeinsam Examen gemacht, sie mit einer Diplomarbeit über T. S. Eliot, ich über Laurence Sternes „Tristam Shandy“, und dann 37 Jahre zusammen beim Goethe-Institut gearbeitet.

Und wie kam es nun dazu?

Es gab einen Aushang an der Uni für einen Posten in Schweden als Deutschlehrer. Das war 1959. Wir fuhren nach München zu einer Art Vorbereitungskurs. Dort trafen wir die Frau, die gerade das Goethe-Institut wieder gegründet hatte. Sie sprach Hanna auf ihren Nachnamen an, Schaudinn, ein ostpreußisch-litauischer Name. Der Großvater meiner Frau steht heute noch in jedem Brockhaus, weil er den Syphilis-Erreger entdeckt hat, wofür er auch Ehrenbürger von Berlin wurde. Seine Frau war „Halbjüdin“ – Hannas Vater war also ein „Viertel-Jude“ und verlor 1933 seine Stelle als Historiker an der Uni Königsberg. Er emigrierte nach Jugoslawien. Und die Dame vom Goethe-Institut kannte ihn, weil er im Exil in Zagreb für ein Goethe-Institut gearbeitet hatte. Sie bot uns an, nach der Schweden-Zeit im Goethe-Institut anzufangen.

War das nicht merkwürdig, so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Institution zu arbeiten, deren Aufgabe es ist, deutsche Kultur in die Welt zu tragen?

Ja, Sie haben recht. 1945 war das Goethe-Institut ja auch verboten worden von den Alliierten. Aber mit dem Wirtschaftswunder ab Mitte der 1950er Jahre baten viele Ausländer regelrecht darum, die Einrichtung wiederzubeleben. Viele wollten in Deutschland studieren und mussten die Sprache lernen, etwa Angehörige der englischen und französischen Kolonien. Nigerianer etwa gingen nicht nach England zum Studium, die wollten mit der alten Kolonialmacht nichts zu tun haben. Und natürlich kamen viele Ägypter, die ja Hitler verehrt hatten, überhaupt viele Araber.

Nicht trotz, sondern wegen Hitler wollten sie hierher?

Genau, die deutschen Unis waren voll von arabischen Studenten. Und wir haben ihnen Deutsch beigebracht, den Studenten und den ausländischen Deutschlehrern. Das war auch das, was meine Frau und ich machen wollten, unterrichten. Wir hatten viele Angebote, Institute zu übernehmen, in Deutschland und im Ausland, aber wir haben solche Verwaltungsposten immer abgelehnt. Wir haben die Jobs gemacht, die keiner wollte. Für die Atomingenieure aus Iran fand sich schnell ein Deutschlehrer. Aber wer macht die Arbeiter aus der Türkei, die ein eher niedriges Bildungsniveau haben? „Da schicken wir die Rogallas“, hieß es dann. So sind wir umhergereist in Deutschland, haben an vielen Instituten unterrichtet. Ich war auch schnell als unverschämt bekannt, bin angeeckt, war im Personalausschuss, im Betriebsrat und so weiter. Schon in der Schule habe ich immer die Wahrheit gesagt, ganz undiplomatisch. So jemand kann kein Institut leiten.

Aber Sie waren auch viel im Ausland.

Ja, immer wieder. Längere Zeit waren wir in Schweden, Norwegen, Singapur und Dänemark. Wir waren im Ausland aber nie gleichzeitig angestellt, denn das Auswärtige Amt, das die Goethe-Institute finanziert, erlaubt keine Anstellung von Eheleuten am selben Ort. In Kopenhagen etwa, wo wir fünf Jahre waren, war ich freigestellt, meine Frau hat gearbeitet. In der Zeit habe ich Jiddisch gelernt, was mich schon lange interessierte. Das Gute war ja, dass wir sehr viel verdienten und es uns leisten konnten, nur halb zu arbeiten. Als wir in Rente gingen, da war ich 63 Jahre alt, hatten wir 600.000 DM auf dem Sparkonto. Das verwende ich heute für Menschen, die es nötig haben, oder für Theaterprojekte und anderes, das mir am Herzen liegt.

Drei Jahre nachdem Sie in Rente gingen, starb Ihre Frau. Wie haben Sie das verkraftet?

„Ich bin in einem Dorf mit 25, 30 Häusern in Masuren geboren, eine arme Gegend, nicht sehr fruchtbar“

Sehr geholfen hat mir dabei eine Freundin aus Warschau, eine Jiddisch-Professorin, die meine Frau und ich als Goethe-Schülerin kennengelernt hatten. Sie hat mich eingeladen, das erste Weihnachten, an dem ich allein war, in Warschau mit ihrer Familie zu verbringen – wir hatten ja keine Kinder. Ich habe viel Zeit dort verbracht, mich auch um ihre Kinder gekümmert. Wir haben auch zusammen geforscht, das Jiddische war ein großes Thema von meiner Frau und mir. So haben die Professorin und ich in Wien ein sehr altes Jiddisch-Buch entdeckt, einen 1604 erschienenen Gesundheitsführer, wohl einer der längsten Texte in Ost-Jiddisch, den es überhaupt gibt.

Wie kamen Sie dann eigentlich nach Berlin?

Das liegt an einer weiteren Freundin, Hedda, wegen der ich oft nach Berlin kam, um ins Theater zu gehen. Hedda ist eine Wahlverwandte im wahrsten Sinne des Goethe’schen Wortes, meine Wahl-Schwester, die ich von Jugend an kenne. Mit ihr teile ich alles, jedes Buch, das ich lese, liest sie auch. Als meine Frau starb – wir lebten die letzten Jahre in Göttingen –, nahm ich mir eine Zweitwohnung am Nollendorfplatz. Später besorgte Hedda mir meine jetzige Wohnung hier in Friedrichshain und richtete sie ein.

Frauen scheinen ja eine wichtige Rolle in Ihrem Leben zu spielen. Vor zwei Jahren trafen Sie Ihre Jugendliebe Sigrid wieder. Wie kam das?

Das war genauso ein Zufall wie das mit dem Goethe-Institut. Sie war 16 Jahre lang Witwe und ihr 80. Geburtstag stand an. Sigrid überlegte mit ihrer Tochter, wen sie einladen konnte, und da erwähnte sie nebenbei die „erste große Liebe“. Die Tochter war überrascht und – von Neugier geplagt – recherchierte sie im Internet und fand meine Adresse in Göttingen. Ich lebte damals allerdings gerade für zwei Jahre in Warschau, wo ich auf den Hund meiner Freundin aufpasste, die eine Gastprofessur für Jiddisch in Berlin hatte. Doch für einen Tag kam ich nach Göttingen, um nach dem Rechten zu sehen, und fand die Nachricht von Sigrid. Einen Monat später besuchte ich sie in ihrem Ort bei Stuttgart, wo sie in, mit und von Musik lebte –erst mit 80 gab sie den Unterricht an einer privaten Musikschule auf. Wir waren überrascht, wie viel von unserem wunderbaren Sommersemester nach 56 Jahren noch in uns war. Und wir beschlossen sofort, uns nie wieder zu trennen.

Und Sie haben sich gleich wieder geliebt?

Ja, sofort. Sie hatte das Glück wie ich, einen Partner gehabt zu haben, der gut zu ihr passte. So sind wir beide dieselben geblieben. Ich denke, weil wir bis zum Tode unserer Partner ein glückliches Leben hatten führen können.

Sie wirken sehr jung für Ihre 80 Jahre. Liegt das an der Liebe?

Eher daran, dass ich bis heute neugierig geblieben bin: Ich will wissen, wie die Erde entstanden ist, was schwarze Löcher sind, wie das Gehirn arbeitet, warum ein Gänseblümchen einen asphaltierten Fahrradweg durchbrechen kann. Genauso ist Sigrid, und so entdecken wir jetzt vieles gemeinsam: Wir reisen viel, lernen immer neue Sachen. Die Neugierde hat uns damals schon zusammengebracht.

Haben Sie Pläne?

Ach, keine großen: meine Sigrid sehen, mit ihr jeden Abend zwei Stunden telefonieren, bis wir uns wiedersehen und auf unser Lotterbett sinken können. Mit ihr in Theater, Konzerte, Museen gehen, lesen, spazieren gehen, reisen. Wir genießen vor allem, dass wir nach vielen Jahren Einsamkeit wieder jemand neben uns haben. In unseren SMS und Briefen nennen wir uns Philemon und Baucis, nach dem antiken Paar, dessen größter Wunsch es war, gemeinsam zu sterben. Zeus erfüllt ihnen diesen Wunsch, schreibt Ovid. Und nach dem Tod verwandelt er Philemon in eine Eiche und Baucis in eine Linde. Mal sehen, was noch kommt, ich bin ja Agnostiker. Und ein Glückskind.