Wir Hochaufgelösten

ZUKUNFT Christoph Kucklick fragt, wie die umfassende Digitalisierung uns und auch unser Gesellschaftsmodell verändern wird

Wir werden immer einzigartiger – je genauer sich im Büro, auf der abendlichen Joggingstrecke, im Supermarkt oder auf dem Wohnzimmersofa erfassen lässt, was wir dort tun und je mehr Sensoren uns dabei begleiten. Christoph Kucklick nennt das Singularisierung. Er hat dem Phänomen ein Buch gewidmet: „Die granulare Gesellschaft“. Untertitel: „Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst“.

Was Kucklick, Soziologe und Chefredakteur des Magazins Geo, vor allem erzählt, ist, wie das Digitale unsere Wirklichkeit „immer höher“ auflöst. Unsere digitalen Alter Egos bestehen aus einer ständig wachsenden Zahl von Pixeln, von Datenpunkten. Nicht nur auf den Urlaubsfotos. Da ist nicht mehr nur der Eintrag im Telefonbuch, heute gibt es auf Bonuskarten, in Fitness-Apps, in sozialen Netzwerken oder der Bordelektronik des Autos so unglaublich viele Informationen über jede Einzelne, dass unsere Profile in Datenbanken immer granularer, immer feiner werden.

Kucklick verdeutlicht das am Beispiel des Bostoner Unternehmens „Sociometric Solutions“, das 2007 in einem Experiment in der Marketingabteilung der Kreissparkasse Köln Mitarbeiter mit Sensor-Boxen ausstattete, um herauszufinden, wer am häufigsten mit wem sprach. Mittlerweile fordert ein „Meeting Mediator“ der Firma in Konferenzen Mitarbeiter auf, ihr Verhalten zu korrigieren. Guck freundlicher, rede nicht so viel! Detaillierte Daten machen das möglich.

Führt uns diese Granularität im Job in eine „Hyper-Meritorkratie“, „in der jede Äußerung, jede Handlung auf ihren ökonomischen Wert untersucht wird“, fragt Kucklick. Degeneriert die Gemeinschaft der Singularien zur „totalen Konkurrenzgesellschaft“, überlegt er mit dem französischen Historiker Pierre Rosanvallon.

Verführung, nicht Zwang

Wir leben nicht mehr in der „Disziplinargesellschaft“, die Michel Foucault beschrieb, und in der wir in Schule, Armee oder Fabrik in unser Verhaltenskorsett gezwängt werden. Eher handelt es sich um eine „Kontrollgesellschaft“, wie sie der Philosoph Gilles Deleuze zeichnet. Wir würden, glaubt Kucklick, nicht mehr ausgebeutet, sondern ausgedeutet. Dank der „anschmiegsamen Technologien“, so nennt sie wiederum die Anthropologin Natasha Schüll, dank Tausender Sensoren in Smartphones oder Autos, können Staat und Unternehmen Anreizsysteme schaffen, die uns lenken: „Wir werden nicht mehr gezwungen, sondern verführt“, schließt Kucklick.

Nichts ist für ihn per se „gefährlich“ oder „gespenstisch“ wie in gar nicht so wenig anderen Sachbüchern zur Digitalisierung. „Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!“, hyperventilierte jüngst etwa der Softwareentwickler Markus Morgenroth. Kucklick hat auch keine grundsätzliche Angst vor Maschinen wie der Skeptiker Nicholas Carr, der in „Abgehängt“ fragte: „Wo bleibt der Mensch, wenn die Computer entscheiden?“, und sich vor allem Sorgen machte, dass Piloten vor lauter Bordelektronik das Fliegen verlernen.

Auch Christoph Kucklick sieht, wie der Satz „Nur ein Mensch kann …“ angesichts der Maschinisierung immer weniger Enden findet, und skizziert das Dilemma, das entsteht, wenn ein Algorithmus in einem fahrerlosen Auto künftig entscheiden muss, ob er bei einer Gefahr lieber das Leben der Insassen oder der Fußgänger riskiert. Er verschweigt auch nicht seine Ratlosigkeit in einer digitalisierten Gesellschaft, in der das Wort „Datenschutz“ wie ein Anachronismus wirkt, ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der sich die Daten, die geschützt werden sollten, noch klar identifizieren ließen. Brauchen wir jetzt eher Algorithmiker, einen neuen Berufsstand, der die öffentliche Kontrolle von Algorithmen übernimmt?

„Überall Auflösung, aber keine Lösung“, erkennt Kucklick. Und hat eine interessante Frage: Könnte es sein, dass sich in einer feinkörnigen Gesellschaft, in der die „singuläre Mischung der Charaktermerkmale jedes Einzelnen“ in den Vordergrund tritt, auch so grobe Konstrukte wie die Unterscheidung in Mann und Frau auflösen?

JOHANNES GERNERT

Christoph Kucklick: „Die granulare Gesellschaft“. Ullstein, Berlin 2014, 272 S., 18 Euro