Macht durch Masse

Früher versuchte China, durch Unterstützung der afghanischen Gotteskrieger Einfluss auf Afghanistan zu nehmen. Heute erobert es einfach den Markt mit seinen Produkten

VON BAHMAN NIRUMAND

Während die USA und ihre Verbündeten in der Nato immer noch der Meinung zu sein scheinen, die Probleme Afghanistans militärisch lösen zu können, gehen die beiden großen Nachbarn, Iran und China, andere Wege.

Mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan sahen sich die Islamisten im Iran, denen gerade eine Revolution zum Sieg verholfen hatte, in einer schwierigen Position, die durch Konflikte mit den USA und durch den Krieg gegen Irak noch komplizierter wurde. Bei alledem blieb dem Land, das nun von außenpolitisch unerfahrenen Geistlichen beherrscht wurde, kaum Spielraum für eine durchdachte Politik gegenüber seinem Nachbarn, der in einen Bürgerkrieg verwickelt war. Umso erstaunlicher ist, dass Teheran schon Anfang der 1980er-Jahre die Richtlinien für eine neue Afghanistanpolitik festlegte.

Das Hauptziel der Islamischen Republik war, über die Unterstützung der schiitischen Minderheit ihren Einfluss in Afghanistan zu erhöhen, ein Gegengewicht zu der von Pakistan unterstützten sunnitischen Mehrheit zu bilden und selbstverständlich auch den bewaffneten Kampf gegen die Sowjets und die kommunistische Regierung in Kabul voranzutreiben. Die Verbindung zur Bevölkerung in Afghanistan wurde auch dadurch begünstigt, dass ein unaufhörlicher Strom von afghanischen Flüchtlingen in Richtung Iran zu fließen begann, deren Zahl bis zum Sturz der Taliban einen Stand von rund drei Millionen erreichte.

Ende der 1980er-Jahre gelang es Teheran, die wichtigsten der miteinander rivalisierenden schiitischen Gruppen unter dem Dachverband Hisb-i-Wahdat (Partei der Einheit) zu einigen. Nach dem Abzug der Sowjets und dem Sturz der Regierung Nadschibullah begann der Kampf gegen die vorrückenden Taliban. Die Hisb-i-Wahdat, die von Teheran finanziell und militärisch unterstützt wurde, stellte sich auf die Seite der schwachen Regierung Rabbanis und schloss sich nach der Machtübernahme der Taliban der Nordallianz an.

Der von den USA geführte Krieg gegen Afghanistan und der Sturz der Taliban hatten für den Iran Vor- und Nachteile. Selbstverständlich war man in Teheran über den „Sieg“ der Nordallianz und das Verschwinden der Erzfeinde im östlichen Nachbarland glücklich. Nun konnte man den erfolgreichen Versuch der Einflussnahme fortsetzen, auch mit Hilfe der afghanischen Flüchtlinge, die im Großen und Ganzen gut behandelt worden waren und die nun als Träger iranischer Interessen fungieren konnten.

Von großem Nachteil war hingegen der Umstand, dass nun der Erzfeind USA als Besatzungsmacht in direkter Nachbarschaft Irans seine Militärstützpunkte errichten und die strategischen, politischen und natürlich auch ökonomischen Interessen Irans gefährden konnte. Erstaunlicherweise handelten die regierenden Ajatollahs jedoch sehr pragmatisch. Die US-Invasion konnten sie ohnehin nicht aufhalten.

Die Empörung über die Anschläge vom elften September in New York und Washington war weltweit so groß, dass nennenswerte Proteste dagegen nirgends auf der Welt zu erwarten waren. Hinzu kam, dass insbesondere die USA, aber auch andere westliche Staaten Iran als Zentrum des internationalen Terrorismus betrachteten und es damit nicht ausgeschlossen war, dass Washington die günstige Stimmung ausnutzen würde, um auch den Islamisten im Iran einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

So beeilte sich Teheran nach den Anschlägen, den internationalen Terrorismus zu verurteilen, und erklärte seine Bereitschaft, sich in die Koalition gegen den Terror einzureihen. Damit nicht genug. Teheran bot Washington bei geheimen Gesprächen, die damals zwischen beiden Ländern geführt wurden, sogar konkrete Hilfe an.

Iran war auch bei der Afghanistankonferenz auf dem Bonner Petersberg dabei und spielte bei den Bemühungen, zwischen den rivalisierenden Gruppen Einigkeit zu erzielen, eine konstruktive Rolle. Manche Teilnehmer meinten sogar, ohne Iran wäre man sich nicht einig geworden.

Seitdem versucht Teheran, mit der mehr oder weniger von den USA bestellten afghanischen Regierung so eng wie möglich zu kooperieren und beim Wiederaufbau des Landes konkrete Hilfe zu leisten, obwohl diese Hilfeleistung zumindest von einem Teil der afghanischen Bevölkerung als Einmischung und unerwünschte Einflussnahme betrachtet wird.

Inzwischen ist der Einfluss Irans in Afghanistan in der Tat erheblich gestiegen. Große Teile des Nordwestens und Westens sind eng mit der iranischen Wirtschaft verflochten. Afghanistan gilt schon längst als einer der wichtigsten Absatzmärkte Irans. Zahlreiche iranische Unternehmen haben in Afghanistan Filialen gegründet, kleine Fabriken gebaut und neue Märkte eröffnet. Iran hat sich auch am Straßenbau und an der Stromversorgung beteiligt. Im vergangenen Jahr wurde mit dem Bau der Eisenbahnlinie zwischen Herat und der im Nordosten Irans gelegenen Stadt Maschhad begonnen. Ohne viel Lärm erhöht der iranische Gottesstaat seinen Einfluss. Ob diese Strategie der stillen Einflussnahme langfristig fortgesetzt werden kann, ist in Anbetracht der amerikanischen Militärpräsenz einerseits und der Zunahme der Macht der Taliban andererseits jedoch mehr als fraglich.

Die Situation wird noch komplizierter, wenn wir auch einen Blick über die Grenzen Afghanistans hinweg auf den östlichen Nachbarn des Landes werfen. Als die Sowjets Afghanistan besetzten, war die Volksrepublik China aufseiten der Mudschaheddin und der Taliban. Nach Angaben der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo wurden „tausende von Chinesen ausgebildete Guerillaexperten für ultrasubversive Aktivitäten abkommandiert, um Blitzaktionen gegen afghanische Truppen durchzuführen, die die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan bewachen“. Damals wurde auch bekannt, dass Peking an einem „großen Plan“ zum Sturz des prosowjetischen Regimes in Afghanistan mitwirkte, der hinfällig wurde, als sowjetische Truppen im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierten.

Die massive Unterstützung der Gotteskrieger gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan war für China in mehrfacher Hinsicht ein riskantes Unterfangen. Da die USA ebenfalls die Gotteskrieger unterstützten, ergab sich zwangsläufig eine Allianz zwischen den beiden Mächten, die in Anbetracht der herrschenden Ideologie in China nicht so einfach zu erklären und zu legitimieren war. Auch die aktive Teilnahme Pakistans an der antisowjetischen Front war politisch-ideologisch genauso anrüchig wie die Teilnahme Saudi-Arabiens, Ägyptens und anderer arabisch-islamischer Staaten.

Und die Unterstützung islamischer Rebellen brachte für China noch ein weiteres Problem. Nachdem die linke Regierung in Afghanistan gestürzt war, kehrten tausende muslimische Chinesen, die ihre Glaubensbrüder in Afghanistan unterstützt hatten, in ihre Heimat zurück. Nun waren sie militärisch ausgebildet und erfahren, sie besaßen Waffen, und, noch wichtiger, ihr Geist und ihre Seele waren erfüllt vom islamischen Glauben, den sie nun auch in ihrem eigenen Land pflegen und verbreiten wollten. Seitdem ist die nordwestchinesische Provinz Xinjiang immer wieder Schauplatz von Unruhen, die von chinesischen Streitkräften brutal niedergeschlagen werden. Hier beansprucht das muslimische Turkvolk der Uiguren die an der alten Seidenstraße liegende Region für sich, die vor der Übernahme durch China im Jahr 1949 noch Ostturkestan hieß. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf 2005 Peking religiöse und kulturelle Unterdrückung vor. Dagegen behauptet Peking, die Uiguren unterhielten Verbindungen zur Terrororganisation al-Qaida, die ihren Kampf um Unabhängigkeit unterstützte und dirigierte.

Die Machtübernahme der Taliban in Kabul ließ in China die Befürchtung aufkommen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Taliban und den Uiguren fortgesetzt werden würde. Deshalb betrieb Peking eine Politik der Annäherung an das Taliban-Regime, das jedoch international immer weiter in die Isolation geriet.

Tatsächlich wurde zwischen Kabul und Peking eine ganze Reihe wirtschaftlicher und sogar militärischer Abkommen getroffen. Parallel dazu rückten aber die Taliban immer mehr ins Visier der USA, weil sie Al-Qaida-Chef Bin Laden nicht ausliefern wollten. Das Ultimatum, das der UN-Sicherheitsrat Kabul stellte, Bin Laden innerhalb eines Monats auszuliefern, fand auch die Zustimmung Pekings. Und China nutzte, nachdem sich in der Folge der Anschläge vom elften September eine internationale Front gegen den Terrorismus gebildet hatte, die Gelegenheit, um die radikalen Islamisten im eigenen Land zu verfolgen.

Nach dem Sturz der Taliban und dem Einzug von USA- und Nato-Truppen war es mit der chinesischen Afghanistanpolitik zunächst zu Ende. Was sollten die Chinesen auch tun? Die Zusammenarbeit mit den Taliban konnte nicht fortgesetzt und eine Unterstützung der Mudschaheddin nicht wiederaufgenommen werden. China zog sich vorerst zurück und musste hinnehmen, dass die USA und ihre Verbündeten im Nachbarland Krieg führten.

Dann begannen die Chinesen mit jener Strategie, die sie seit geraumer Zeit allen Staaten gegenüber verfolgen: überall und mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln, ungeachtet der Ideologie und der Moral, wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Sie überschwemmten den afghanischen Markt mit billigen, in vielen Branchen konkurrenzlosen Produkten. Und sie hatten damit Erfolg. Inzwischen stehen sie unter den afghanischen Importeuren mit einem Anteil von rund zwanzig Prozent an erster Stelle. Aber dabei wird es sicherlich nicht bleiben. China wird weder eine langfristige Besetzung seines Nachbarstaats Afghanistan noch einen Sieg der Taliban und anderer Gotteskrieger hinnehmen.

Schon auf dieser ersten Station unserer Lagebeschreibung des Nahen und Mittleren Ostens – in einem Land, das im Vergleich zu anderen Ländern der Region ökonomisch, geopolitisch und militärstrategisch keine besonders herausragende Rolle spielt – wird mithin deutlich, dass die Komplexität der Probleme und Konflikte keineswegs allein auf nationale Ursachen zurückzuführen ist. Folgerichtig lassen sie sich auch nicht national lösen. Die Hauptakteure sitzen in den Nachbarländern, in Pakistan, im Iran und in China, und sie sitzen noch weiter entfernt in Washington und in Brüssel. Und genau dieser Umstand birgt die Gefahr, dass eine Eskalation der politischen Lage eine Kettenreaktion auslöst, die nicht nur die Nachbarstaaten in Mitleidenschaft ziehen, sondern zu einer internationalen Konfrontation führen könnte.

Hier in Afghanistan, wie in den anderen Staaten, in denen sich die Konfliktherde befinden, laufen, wie wir gesehen haben und weiter sehen werden, viele verschiedene Fäden zusammen. Es wäre naiv, zu glauben, es handle sich um lokal eingrenzbare Probleme. Noch deutlicher wird dies, wenn wir uns dem südöstlichen Nachbarstaat Pakistan zuwenden.

BAHMAN NIRUMAND, 1936 in Teheran geboren, ist Autor des monatlich erscheinenden iran-reports der Heinrich-Böll-Stiftung. Er schreibt regelmäßig für die taz. Der Text auf dieser Seite ist ein Vorabdruck aus seinem Buch „Der unerklärte Weltkrieg“, das jetzt im Booklet Verlag (253 Seiten, 18,90 Euro, Berlin) erschienen ist