die taz vor 18 jahren über hans modrows besuch in der bundesrepublik
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Der Besuch des SED-Bezirkschefs aus Dresden und sein Auftritt in den letzten Tagen in Stuttgart und Umgebung sind das bisher deutlichste, wenn auch gedämpfte Signal für die Existenz eines Reformflügels in der SED. Gedämpft deshalb, weil Modrow nicht festgelegt werden wollte. Erstmals wird in Umrissen erkennbar wie der pragmatisch-reformerische Teil der herrschenden politischen Klasse in der DDR sich die Diskussion um Reformprozesse, eine Erneuerung des realexistierenden Sozialismus vorstellt. Diskussion und Widerspruch soll im wesentlichen in vorhandene Strukturen integriert werden. Daß Modrow sich über die neuen Oppositionsgruppen in der DDR ausschwieg, das „ND“-Wort vom Staatsfeind nicht in den Mund nahm, lediglich – wie gemunkelt wurde – den falschen Zeitpunkt ihrer Wortmeldung bemäkelte, ist ein interpretationswürdiges (positives) Zeichen, mehr nicht. Auch der Hinweis auf den Schriftstellerverband, mit dem der Meinungsstreit geführt werde, weist vor allem darauf hin, das auch die SED-Reformer noch daran glauben, die Krise mit den vorhandenen politischen Strukturen meistern zu können.

Mit anderen Worten: Auch Modrow setzt bisher zumindest nicht erkennbar auf einen offenen Dialog mit der neuen Opposition, er setzt lieber auf innerparteilichen Streit und vielleicht noch auf einen Reformdisput mit Teilen der Intellektuellen. Es fragt sich, ob das, was vor fünf Jahren vielleicht noch als Ventilkonzept ausreichende Wirkung nach innen hätte entwickeln können, heute noch etwas taugt. Möglicherweise ist der Versuch der Beschränkung einer Reformdiskussion auf vorhandene politische Strukturen ein Zeichen dafür, daß die SED-Reformer der Zeit noch weit hinterherhinken. Außerdem macht es deutlich, daß selbst die Reformer nicht auf eine sich in der Gesellschaft entfaltende Dynamik einer offenen kontroversen Diskussion über den Sozialismus der Zukunft vertrauen.

Max Thomas Mehr, 29. 9. 1989