Die Unangepassten

BÜHNE In einem Weddinger Obdachlosenverein haben sich ehemalige Wohnungslose, Geringverdiener und trockene Alkoholiker zusammengefunden, um sozialkritische Stücke auf die Bühne zu bringen. Dabei spielen sie auch um ihren Platz in der Gesellschaft

■ Der Verein „Unter Druck – Kultur von der Straße e. V.“ wurde 1991 gegründet. Er bietet verschiedenste Projekte und Angebote für Wohnungslose und sozial ausgegrenzte Menschen, unter anderem soziale Beratung, einen Frauentreff und eine Theatergruppe.

■ Der Verein betreibt einen sozialkulturellen Treffpunkt für Wohnungslose in der Oudenarder Straße 26 und eine Siebdruckwerkstatt am Markgrafendamm 24c.

■ Unter Druck ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband und wird vom Bezirksamt Berlin-Mitte zuwendungsfinanziert.

■ Von November bis März öffnet der Verein donnerstags sein Nachtcafé zum Essen, Trinken und Duschen für Obdachlose. (mesch)

VON LAURA MESCHEDE

Rapunzel mit den grauen Haaren sitzt auf ihrer Lieblingsbank am Rande des Parks. Sie ist traurig. Rapunzel hat ihren Job verloren. Nun kann sie ihre Miete nicht mehr zahlen, den Brief von der Wohnungsverwaltung hat sie nicht geöffnet „Es ist die Kündigung“, sagt sie. Doch das kleine Mädchen neben ihr, dem Rapunzel im Park immer Geschichten vorliest, hat eine Idee: Sie könnte doch auf den Spielplatz ziehen. Auf der Hängebrücke sei der linke Turm frei. Eine gute Idee, findet Rapunzel.

Klatschen. Dabei ist das Stück noch gar nicht vorbei. Es ist alles ein wenig improvisiert hier, im Hinterraum des Café Cralle, in dem der Obdachlosenverein Unter Druck heute seine Stücke aufführt. Drei aneinandergestellte Stühle bilden die Parkbank, auf der Rapunzel sitzt – die einzige Requisite der Theatergruppe. Zwischen den Szenen verschwinden die Schauspieler im Gang zur Toilette, hin und wieder hört man gedämpft ihre Stimmen. Das Publikum sitzt, verteilt auf einer Bank und ein paar Stühlen. Zwölf Leute, überwiegend jung und alternativ gekleidet, und ein großer weißer Hund.

Die Schauspieler, das sind der ehemalige Obdachlose Jan, der trockene Alkoholiker Detlef, die Zeitarbeiterin Bea, die Seniorin Ulla, die rothaarige Erika und Stojanka. Sechs Menschen zwischen Ende 30 und Anfang 70, die sich wöchentlich in dem kleinen Raum des Wohnungslosen-Vereins Unter Druck treffen, um gemeinsam Theater zu spielen. Die Stücke, die sie heute im Café Cralle aufführen, haben sie zum Teil selbst geschrieben, zum Teil von Dichtern übernommen. Unter Druck richtet sich an Wohnungslose und Menschen, die am Existenzminimum leben, „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautet die Devise. In ihrem kleinen Vereinsraum im Berliner Wedding kann man Wäsche waschen und sozial beraten werden, es gibt einen Frauentreff – und eben die Theatergruppe, das Herzstück des Vereins.

Freitag, drei Tage nach der Aufführung. Rapunzel heißt jetzt wieder Ulla. Sie steht zusammen mit den anderen Schauspielern in einem Kreis und trampelt auf den Boden. „Das hier ist der Frust der ganzen Woche“, ruft Jan. „Und den treten wir jetzt klein!“ Die Schauspieler trampeln fester. Dann greifen sie alle in die Mitte, gleichzeitig, nehmen den kleingetretenen Frust und werfen ihn – Hauuuuuuu ruck! – aus dem Fenster. „Ich fliege“, ruft Detlef. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht und den leuchtenden Augen steht in der Mitte des Cafés und schwingt seine Arme durch die Luft. Dann lacht er. „Im geraden Stand bleiben, Detlef“, mahnt Jan. Jan leitet die Aufwärmübungen. Früher, als noch mehr Geld da war, hatte die Gruppe mal einen Theaterpädagogen. Aber dann wurden die Mittel gekürzt, das Café musste vom schicken Berlin-Mitte nach Wedding umziehen und der Pädagoge wurde entlassen – von Jan. „Ich war wohl der einzige Obdachlose, der je Personal entlassen hat“, sagt er und grinst.

Die Theatergruppe, die sich hier versammelt hat, hat keine Hierarchien. Aber wenn es einen Chef unter ihnen gäbe, dann wäre das wohl Jan. Jan in seinem weiten, etwas schief sitzenden schwarzen Anzug mit der beigen Hose, der früher einmal obdachlos war und jetzt im Vereinsvorstand von Unter Druck ist. Wenn Jan die Anweisungen für das Impro-Theater oder die Aufwärmübungen gibt, wird seine sonst undeutliche, fast nuschelnde Stimme plötzlich klar und sicher. Er wirkt dann, als wäre er geradewegs der Volksbühne entsprungen, ein etwas verrückter, visionärer Regisseur, der mit seinem Drehbuch in der Hand das Schauspielensemble dirigiert.

Auch wenn sich Unter Druck in erster Linie an Obdachlose richtet, ist Jan der Einzige hier, der je wohnungslos war. Doch das nimmt dem Verein nicht seine Existenzberechtigung. Im Gegenteil. Unter Druck ist ein Ort für Menschen am Rande der Leistungsgesellschaft. Hier versammeln sich jene, die sich irgendwo auf dem Weg zwischen Jugend und Altenheim verloren haben. Die Unangepassten, Glücklosen und Einsamen, die hier plötzlich überhaupt nicht mehr glücklos und einsam wirken.

„Den Frust der ganzen Woche, den treten wir jetzt klein!“

SCHAUSPIELER JAN BEI DER PROBE

Schauspieler zu sein, das sei immer sein großer Traum gewesen, erzählt Detlef später draußen beim Rauchen, er habe sogar schon die Zusage einer Schauspielschule in der Hand gehabt. „Aber mein Vater war dagegen.“ sagt er. „Er hat die Zusage in den Kamin geworfen und verbrannt.“ Also machte Detlef stattdessen eine Ausbildung. Und dann noch eine. Erst zum Einzelhandelsverkäufer, dann zum Bürogehilfen, das war damals noch ein Lehrberuf. Später versuchte er es noch mit einem Studium, aber als ihm die Zuschüsse gestrichen wurden, musste er es abbrechen. „Kurz darauf ist mein Lieblingsfreund gestorben“, sagt er. „Und dann meine Freundin. Die war schwanger.“ Detlef zieht heftig an seiner Zigarette. 44 sei er gewesen, als sie starb, an Gehirnschäden. „Da habe ich das Trinken angefangen.“ Seit sechs Jahren ist er jetzt trocken und lebt in einer betreuten Einrichtung für Suchtkranke. „Das Schauspielern gibt mir eine wahnsinnige Stärke“, sagt er. „Je besser ich mich in fremde Rollen einfügen kann, desto besser komme ich auch im Leben zurecht.“

Das Stück, das die Schauspieler aktuell proben, spielt auf einem Schiff. Sie alle sind Partygäste auf einer großen Feier, werfen sich Belanglosigkeiten zu, trinken Sekt. Dann sinkt das Schiff. „Da stecken so Elemente drin, die wir auch in der Gesellschaft sehen. Dieses ‚die Realität nicht sehen Wollen‘“, sagt Jan. Jan hat seine Wohnungslosigkeit damals nicht freiwillig aufgegeben. „Berlin war mein Wohnzimmer“, sagt er häufig und ein gewisser Stolz schwingt darin mit. Aber nachdem er in den Vorstand von Unter Druck gegangen war und den Haustürschlüssel anvertraut bekam, wurde es irgendwann schwierig, keinen Wohnsitz zu haben. „Ich habe anfangs oft im Vereinsraum von Unter Druck geschlafen, um auf den Schlüssel aufzupassen“, sagt er. Und schließlich, 2008, hat er sich doch eine Wohnung zugelegt.

Inzwischen ist es fast 23 Uhr. Die Proben sind schon lange vorbei, aber die Schauspieler sitzen noch immer an dem Holztisch und reden. Was gibt ihnen das Theaterspielen? „Für mich ist das wie ein Job“, sagt Detlef, „es ist ein Ersatz für Arbeit und ich kann ich selber sein.“ Er blickt in die Runde und lächelt. „Ich hatte früher immer Angst, dass die Leute mich auslachen, aber ich habe gemerkt, dass das nicht so ist. Jetzt habe ich keine Angst mehr“, sagt Bea. „Sie ist auch eine tolle Schauspielerin“, erklärt Detlef. „Genau wie Jan.“ Jan grinst. Er tippt mit seinen Fingern auf dem Manuskript herum. „Manchmal werden wir auch als Gruppe irgendwo eingeladen“, sagt er. „Das ist ein bisschen Teilhabe.“ Die anderen nicken.