die taz vor 17 jahren über den ausschluss der migranten am tag der einheit
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In keiner der Politikerreden zum „Tag der Einheit“ durften sie fehlen, die Ängste der „ausländischen Nachbarn“ vor dem großen wiedervereinigten Deutschland, denen man selbstverständlich verantwortungsvoll und einfühlsam begegnen werde. Währenddessen keine Geste, kein Wort darüber, daß dieses Deutschland auch noch andere „ausländische Nachbarn“ hat – fast fünf Millionen konkrete Menschen, die als ImmigrantInnen, StudentInnen oder Flüchtlinge schon seit Jahren Tür an Tür bei uns leben. Daß ihre Ängste vor dem wiedervereinigten Deutschland, vor Ausgrenzung, rechtlicher Unsicherheit und Rassismus in den Feiertagsreden keinen Platz hatten, ist ein politisches Signal. Ein Signal, daß die Politiker diese Ängste der ausländischen Minderheiten nicht zur Kenntnis nehmen wollen und sie auch mehr denn je glauben, diese soziale Gruppe mit Ignoranz in die Isolation treiben zu können. Dabei wäre es so leicht gewesen, mit einigen Worten wenigstens ein Stück Problembewußtsein zu demonstrieren. Doch nicht einmal der Gedanke, daß das neue Deutschland seine viel beschworene Friedfertigkeit und Weltoffenheit gegenüber den „ausländischen Nachbarn“ auch daran messen lassen muß, wie es mit seinen ausländischen Nachbarn im eigenen Lande umgeht, ist den Festrednern gekommen. Und das wohl auch aus gutem Grund: Denn ein vereinigtes Deutschland, das es bald geschafft haben wird, von seinem Territorium östlich der Elbe auch noch den letzten Nicht-Deutschen zu verdrängen, ein Deutschland, das sich an seinen Grenzen hermetisch gegen jeglichen Zuzug von Armutsflüchtlingen abriegelt, ein Deutschland, in dem eine Beinahe-Allparteien-Koalition das Asylrecht zur Disposition stellt und sowjetischen Juden die Einreise verweigert, ein Deutschland, dessen Politiker mit keinem einzigen Wort rassistische Äußerungen der Bürger in die Schranken gewiesen haben – ist wahrlich kein vertraueneinflößender Nachbar.Vera Gaserow, taz, 5. 10. 1990