Die Macht seiner Worte

SCHULDGEFÜHLE Schwindelei wird zu Literatur und der Belogene zum bedürftigen Leser: Alberto Vigevanis schöner Roman „Belle – ein Trugbild“

VON ULRICH RÜDENAUER

Der Mailänder Erzähler und Verleger Alberto Vigevani (1918–1999) wurde vor einigen Jahren mit einer wunderschönen, aus einer ganz anderen Zeit zu uns herübergewehten Geschichte wiederentdeckt: „Sommer am See“, bereits vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben und in den dreißiger Jahren spielend, atmete etwas vom Geist der großen Erzähler zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Der kleine Roman ist der Epilog einer Kindheit – Nachhall eines Gefühls, das aus einer Begegnung mit dem eigenen, an der Schwelle zum Erwachsensein stehenden Ich erwächst. Bis ins Alter lässt sich dieses Sentiment konservieren und beschwörend wieder hervorrufen.

Nun gibt es ein neues altes Buch von Vigevani. Der sanft schwebende Ton und die Erinnerungssehnsucht sind sofort wiederzuerkennen, und die sparsame Handlung weist Motive auf, die schon in früheren Erzählungen zu entdecken waren.

In all seinen bislang auf Deutsch erschienenen Geschichten nimmt Alberto Vigevani die Perspektive des Jungen ein, der nicht mehr Kind, aber doch noch nicht von den Anforderungen der Welt korrumpiert ist: Diese Übergangszeit hat etwas Schwirrendes, Vages; vieles ist möglich, als würde die Welt stillstehen, während im Innern alles schwankt. Langsam, behutsam, als wollte er die beschworenen Geister nicht zu sehr aufschrecken, umspielt der Erzähler in „Belle – ein Trugbild“ eine Begebenheit seiner Jugend. Er kehrt zurück zu seinem fünfzehnjährigen Ich, das im Mailand der dreißiger Jahre die Bekanntschaft eines kränklichen, ein wenig bemitleidenswerten jüdischen Jungen namens Leonardo macht – eines Waisen, der nach dem Tod seines Vaters bei den beiden treusorgenden Tanten aufwachsen soll. Der Erzähler wird von seiner Familie gezwungen, sich mit dem Gleichaltrigen abzugeben. Sein „schleppender Schritt“ und die „Ohren eines kleinen Elefanten“ verleihen diesem Leonardo ein etwas ungeschicktes Auftreten und ein unvorteilhaftes Äußeres; seine Klugheit und Herzkrankheit verstärken nur den Widerwillen des Erzählers, den Freund zu mimen.

In die Liebe verliebt

Als pubertierender Junge ist man nicht gerade darauf geeicht, nachsichtig mit den Schwächen und Nöten von Altersgenossen umzugehen. Im Rückblick auf die erzwungene Begegnung mit dem fremden Jungen schleichen sich beim reifen Mann immer wieder Schuldgefühle ein und das Bedauern, mit einer gewissen Überheblichkeit und allzu ausgestellten körperlichen Präsenz auf Leonardo reagiert zu haben. Vigevani lässt seinen Erzähler geradezu skrupulös in der Vergangenheit wühlen; Gesten, Details, Empfindungen wollen sorgsam aus dem Gedächtnis hervorgekramt werden. Diese schöne Umständlichkeit wird durchaus bemerkt: „Ich sehe, dass ich zu weit ausgeholt habe, um Leonardo wiederzufinden, aber zwischen uns schieben sich undurchsichtige Wände, Schattenzonen.“

Nach und nach tastet er sich durch diese Schattenzonen, und im zweiten Teil des schmalen Romans wird auch deutlich, weshalb diese Freundschaft – denn bei aller Distanz wird es eine solche – dem Erzähler so bedeutsam erscheint: Irgendwann beginnt der Fünfzehnjährige nämlich, Leonardo von einem Mädchen zu erzählen, von einer Liebelei, einer Schwärmerei. Er möchte vor dem schwächlichen, sich mit seinem weichen Flaum auf der Wange und dem Erscheinungsbild eines „jungen polnischen Rabbiners“ doch zum Nachteil entwickelnden Leonardo aufschneiden. Die Romanze aber gibt es nicht; der Erzähler hat sie leichtsinnigerweise aus seiner pubertierenden Fantasie hervorgezaubert.

Er gibt dem Mädchen den Namen Belle, erfindet ihr eine französische Herkunft, macht sie zur begabten Tennisspielerin und muss immer stärkeres Augenmerk auf die Nuancen der Geschichte richten, um das „Trugbild“ vor seinem Zuhörer nicht zu zerstören. Leonardo ist ganz begierig nach den neuesten Wendungen, nach den kleinsten Entwicklungen dieser schüchternen Liebe, und der Erzähler erkennt sowohl die Macht seiner Worte als auch die fatale Logik seiner Prahlsucht: Er kommt aus dieser Fantasterei nicht mehr heraus. Und er ist sich irgendwann gar nicht mehr gewiss, ob nicht die Vorstellung von Belle ebenso wahrhaftig ist, wie es ein wirkliches Mädchen nur sein könnte. Er habe sich in die Liebe verliebt wie eine Heldin von Jane Austen, bekennt er, überfließend „vor Zärtlichkeit“.

Was Vigevani hier schildert, ist die Geburtsstunde des Dichters aus dem Geist der Lüge. Die Schwindelei wird zur Literatur. Leonardo zum bedürftigen Leser. Denn was ihm durch seine Konstitution verwehrt ist, erlebt er durch die Augen und die Worte des Erzählers. Er entflieht seiner eigenen Hinfälligkeit. Das Trugbild entsteht durch beiderseitiges Einverständnis, der Fantasie vertrauen zu wollen. Das geht nicht ohne schlechtes Gewissen, aber es spendet Trost.

Alberto Vigevanis Bücher, die von Marianne Schneider wunderbar ins Deutsche gebracht und in klassischer Anmutung von der Friedenauer Presse veröffentlich werden, handeln nicht nur von der Gabe der Erinnerung, sondern auch von der Wirkmächtigkeit der Sprache und vom geheimen Pakt zwischen Schwindelndem und Zuhörer, zwischen Autor und Leser. Die anfängliche Missgunst und Arroganz, durchaus auch Grausamkeit, verwandelt sich durch diesen Pakt langsam in Anteilnahme und Melancholie. Man möchte diesem kleinen Buch sehr viele anteilnehmende, für Melancholie empfängliche Leser wünschen.

Alberto Vigevani: „Belle – ein Trugbild“. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Friedenauer Presse. Berlin 2014, 124 Seiten, 16 Euro