Im Land der höchsten Studierendenquote

Helga Trüpel, bis gestern als Delegationsleiterin des Europäischen Parlaments in Riga unterwegs, fordert eine „Ost-Erweiterung unseres Bewusstseins“. Von den Letten könne man unter anderem Konsequenz in der Bildungspolitik lernen

HELGA TRÜPEL, 49, war Kultursenatorin in Bremen und ist Vizevorsitzende des Kultur- und Bildungsausschusses im Europäischen Parlament

taz: Frau Trüpel, was sucht man als Europaparlamentarierin, die sich mit allen Fragen von Kultur und Bildung auf dem gesamten Kontinent beschäftigen muss, speziell in Riga?

Helga Trüpel: Die Dynamik des lettischen Aufbruchs seit der Anfang der neunziger Jahre erreichten Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist unglaublich spannend. Die Anforderungen des „Bologna“-Prozesses zum Zusammenwachsen der europäischen Hochschulsysteme zum Beispiel werden hier mit einer ganz anderen Schnelligkeit als in Deutschland umgesetzt. Lettland hat heute die höchste Studierendenquote von ganz Europa. Es ist also höchste Zeit für eine Ost-Erweiterung unseres Bewusstseins.

Ihre Delegation hat auch Museen besucht: Das große Okkupationsmuseum wie auch das kleine jüdische …

Das jüdische Museum liegt in der Tat ziemlich unauffällig im zweiten Stockwerk eines Hauses in einer Rigaer Seitenstraße. Man muss es also kennen oder suchen. Mir war es sehr wichtig, dass diese Einrichtung noch kurzfristig ins Programm aufgenommen wurde. Sie ist das Lebenswerk von Margers Vestermanis, der als einer von ganz wenigen lettischen Juden den Holocaust in einem Versteck im Wald überlebt hat. Während der Sowjetzeit brauchte er für den Aufbau der Sammlung eine ungeheure Hartnäckigkeit und auch heute ist es für ihn sehr schwer, eine angemessene Resonanz zu bekommen. Erst seit Anfang der Neunziger bekommt das Museum eine kleine öffentliche Unterstützung.

Sie haben das jüdische Museum schon in Ihrer Zeit als Bremer Kultursenatorin unterstützt und besucht. Was verändert sich, wenn man als Europaabgeordnete zurück kommt?

Als Bremer Senatorin war ich eben die Deutsche, mit all der schrecklichen Vergangenheit im Hintergrund. Im Rahmen einer europäischen Delegation ist der Kontext noch mal vielfältiger.

Eine Städtepartnerschaft wie zwischen Bremen und Riga kann eine einigermaßen unmittelbare Verbindungsachse darstellen. Was wird besser, wenn man den Umweg über Brüssel macht?

Europa besteht aus den unterschiedlichsten politischen Perspektiven. Mein spanischer Kollege hat sich den in Lettland stattfindenden Strukturwandel noch mal mit ganz anderen Augen angeschaut, die Kollegin von der Kommunistischen Gruppe aus der Tschechischen Republik musste sich mit den traumatischen Erfahrungen auseinander setzen, die die Letten während der über 50-jährigen russischen Besatzung gemacht haben.

Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Sprachenpolitik spannend: Obwohl die Russen immer noch 30 Prozent der Bevölkerung stellen, wurde Lettisch zur ausschließlichen Amtssprache erklärt.

Wenn man bedenkt, dass bis Anfang der 90er Jahre noch jede Dissertation auf Russisch verfasst werden musste, ist diese Art von Sprachpolitik verständlich. Immerhin werden von 36 Stunden in der Oberschule 22 auf Lettisch, die übrigen in anderen Sprachen gegeben. Lettland war immer ein multikulturelles Land, das sieht man sehr anschaulich anhand der viersprachigen Plakate, die im jüdischen Museum ausgestellt sind: 1919 wurde auf Lettisch, Russisch, Deutsch und Jiddisch Wahlkampf gemacht. Jetzt ist Lettland eines von 27 EU-Mitgliedsländern und muss sich auch mit den Erwartungen der Europäer, wie man mit Minderheiten umgeht, auseinandersetzen.

INTERVIEW: HENNING BLEYL