berliner szenen Premierenflair

Surreales in Reihe 10

Premiere am Berliner Ensemble. Die „Dreigroschenoper“-Actrice Christina Drechsler schwebt zart wie eine Elfe regelrecht über die Bühne und ihre Stimme gleicht dem Tirilieren aufgeregter Spatzen. Ein Ausbund an neckischer Lebensfreude ist sie. Irgendwie überträgt sich ihre Anmut ins Publikum, führt dort zu seltsamen Phänomenen: Die dickleibigsten Matronen, die bräsigsten Kerle nehmen Haltung an. Grazie breitet sich aus, flirrt durch die Reihen, steckt an, unübersehbar.

Da hebt eine Lady Anfang dreißig die Arme zum Szenenapplaus – es ist purer Tanz, was sie da treibt. Ein Mann Mitte vierzig schlägt die Beine übereinander, so elegant, als posiere er für ein Modefoto. Selbst die Omi mit Dauerwelle greift jetzt mit expressiv gespreizten Fingern nach dem Opernglas. In der Pause dann die Probe aufs Exempel: Wird getrippelt und getrapst oder getrottet und getrampelt? Vor allem wird geschoben, denn es ist proppenvoll. An den Buffets die üblichen Schlachten, man drängelt und schubst sich ums Sektglas herum.

Also richte ich den Blick auf die Verbliebenen im Parkett. Und siehe da: Der prominente weiße Kopf eines Altbundespräsidenten schiebt sich surreal langsam durch die leere Reihe zehn, durchquert die schmale Gasse mit eigenartig geometrischem Habitus, von rechts nach links. Warum nur, Herr Weizsäcker? Außen herum wären Sie, trotz Menschenmassen, schneller. Warum also, Herr Weizsäcker? Sein Gesichtsausdruck gibt Antwort: Somnambulismus. Es muss der Zauber des Abends sein, der ihn so traumverloren vorwärts treibt: Die Bewegungen des großen alten Mannes sind, im Zeitlupentempo, so schwerelos, als hätte Regisseur Robert Wilson zuvor mit ihm geübt.

GISELA SONNENBURG