„Die Chinesen waren nie nur Opfer“

BILDARCHIV Fündig geworden im Stadtarchiv von Wilhelmshaven: Der renommierte Fotograf und Pulitzer-Preisträger Liu Heung Shing spricht über seinen Bildband über die Revolution von 1911 und den Wunsch nach einer besseren Geschichtsschreibung in China

INTERVIEW JUTTA LIETSCH

taz: Liu Heung Shing, wonach haben Sie gesucht, als Sie die Archive nach den alten Fotos durchforsteten?

Liu Heung Shing: Ich wollte Bilder, die die turbulenten Hundert Jahre widerspiegeln. Diese Periode wird in China gewöhnlich unter zwei Überschriften zusammengefasst: „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Hundert Jahre Erniedrigung“.

Gemeint ist das Gefühl, allein in der Welt dazustehen und durch ausländische Mächte erniedrigt worden zu sein, die ihre Truppen nach China schickten und sich als Kolonialherren aufführten?

Ich wollte zeigen, wie ungenügend diese Sicht ist. Wir müssen beschreiben, wie es dahin kam, was genau damals geschah, wie sich das Land entwickelt hat, wirtschaftlich und politisch. Die Chinesen können die Vergangenheit nicht verstehen, wenn sie sich immer nur als Opfer fühlen. Unter aufgeklärten Historikern in China wird das übrigens auch immer stärker so gesehen. Die Chinesen waren nie nur Opfer. Es ist wichtig, die eigene Geschichte so zu erzählen, wie sie sich wirklich zugetragen hat. Mit Bildern kann man oft mehr sagen als mit Worten – vor allem in China, wo jedes Wort auf die Waagschale geworfen wird.

Die Behörden haben die chinesischen Medien angewiesen, im Gedenkjahr keine offenen Debatten über die Revolution von 1911 und ihre Folgen zu führen. Warum sorgen sie sich so?

Wie Sie wissen, ist das politische Klima derzeit sehr angespannt. Im nächsten Jahr wird es in China eine neue Führung geben. In solcher Situation versuchen die Behörden sicherzustellen, dass die Diskussionen nicht zu sehr vom Skript abweichen. Aber es erscheinen derzeit immer mehr Artikel und Essays. Sie werfen die Frage auf, warum die Revolution gescheitert ist. Ein Beispiel: Nach dem Versailler Vertrag, in dem die ehemaligen deutschen Kolonien in China den Japanern statt den Chinesen zugeschlagen wurde, kam es in China im Frühjahr 1919 zu großen Protesten …

zur sogenannten 4.-Mai-Bewegung, in der chinesische Studenten, Schriftsteller und andere für China und Demokratie ebenso wie moderne Wissenschaften forderten.

Heute fragen sich viele Intellektuelle, warum man nicht zurückblicken und in Ruhe über die positiven und negativen Aspekte jener Bewegung reden kann.