die taz vor 18 jahren über willy brandts besuch bei michail gorbatschow in moskau
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Schon vor dem Zusammentreffen Willy Brandts mit Michail Gorbatschow in Moskau mehren sich die Anzeichen, daß am Ende von Brandts Besuch mehr stehen dürfte als lediglich einige pragmatische Arbeitsergebnisse. Brandt, dem gestern von der Moskauer Lomonossow-Universität die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, forderte in seiner Rede, angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in West- und Osteuropa müßten zur Absicherung des Abrüstungsprozesses neue Institutionen entwickelt werden, deren Sitz Berlin sein könnte.

Ein Novum bei dem Besuch ist die ziemlich offene Kontaktaufnahme der SPD-Delegation zu Vertretern der sowjetischen Sozialdemokratie. Am Sonntag trafen sich litauische Sozialdemokraten mit Hans Koschnik. Gestern fand ein Gespräch mit russischen Sozialdemokraten statt. Von dem heutigen Gespräch mit Gorbatschow erwarten Journalisten neben Anregungen zum Ost-West-Krisenmanagement auch weitergehende deutschlandpolitische Erklärungen.

In seiner Rede antwortete Brandt auf Gorbatschows Plädoyer für ein „globales Denken“. Demnach gäbe es nicht nur einen weltweiten Siegeslauf des „neuen Denken“, vielmehr sei auch die Entwicklung neuer Institutionen geboten, die sich mit Abrüstung, ökologischer Kontrolle und den gewaltigen ökonomischen Widersprüchen der Welt befassen sollten. Er warnte davor, leichtfertig zu glauben, das „Thema Frieden habe sich erledigt, es könne abgehakt werden“. Europa sei nicht nur im militärischen Bereich eine „Risikogesellschaft“, sondern auch in ökologischen Problemen, wie „Tschernobyl“ gezeigt habe. Der Reformprozeß verlange eine aufgeschlossene und solide Partnerschaft. Klaus Hartung, 17. 10. 1989