Der Boden unter den Füßen

ANKOMMEN David Yon gelingt mit „La nuit et l’enfant“ ein überzeugender Film über eine Flucht

Flucht bestimmt die Realität von immer mehr Menschen in immer mehr Ländern und Landstrichen. Jeder, der flieht, ist so lange auf der Flucht, bis er irgendwann ankommt. Das Ankommen hängt mit jenen zusammen, die sie ankommen lassen wollen – oder auch nicht. So ist das Thema bestimmend im politischen Alltag westeuropäischer Länder. In der Kultur wird versucht, gegen die kühle Politik anzugehen, für die Fliehenden und ihre Lage Empathie zu schaffen, Einblicke und Einsichten herzustellen. Doch guter Wille vermag nur selten künstlerisch so zu glücken, dass wir über die eigene Sicht der Dinge hinausgelangen.

In „La nuit et l’enfant“ von David Yon gelingt dies mit starken, zugleich einfachen Mitteln und radikalen künstlerischen Entscheidungen. Deshalb radikal, weil die Gewalt ausgespart wird, die zur Flucht bewogen hat.

Ein Kind bewirft mit Steinen den Mond, als könnte es ihn treffen, um vielleicht der Sonne und dem lichten Tag zum Dasein zu verhelfen. Der Junge und ein junger Mann durchwandern ein Gebiet, aus dem Menschen und Tiere verschwunden sind. Es herrscht meist Dunkelheit und Nacht, schwer, einen Überblick zu gewinnen, weder über das Gebiet, noch darüber, was geschehen ist. Der Grund ihrer Flucht bleibt verborgen, ebenso ihr Ziel. Diese Wegweiser fehlen, auch die Frage, ob sie Hunger oder Durst erleiden. Denn die Perspektive ist radikal subjektiv und auf den Boden unter den Füßen gerichtet, auf die flirrende Realität, darauf, dass das Hier und Jetzt zum Vorankommen verpflichtet.

Dazwischen verliert sich die Realität der Flucht. Wenn der Junge mehr von einer Biene erfahren will, die offenbar im Erdreich ihr Bienenvolk hat, lehrt ihn der junge Mann, wie der korrekte Umgang wäre, um nicht gestochen zu werden. Es ist die Sicht des Kindes, das sich für die ersten Dinge interessiert, die vor ihm liegen. Alles, was den jungen Mann bis zu dem Zeitpunkt geprägt hatte, bevor er wegmusste. Und das Kind wirkt eben wie ein Teil des Mannes, das sich mehr und mehr verliert. So wird der Film zur Geschichte des Verlusts einer zu entdeckenden Welt. Wenn in kurzen Vorblenden der junge Mann durch eine grell beschienene Straße zieht, hat er das Kind zurückgelassen. Doch möglicherweise war es Auslöser für den Film – und für den Versuch einer Rekonstruktion dessen, was einem bösen Traum nicht unähnlich ist. Was erfahren wurde, ist ungreifbare Realität, die leicht verschwindet, sobald der wilde Traum vorüber ist. Mit dem Unterschied, dass der Verlust real bleibt. MAXI OBEXER

■ „La nuit et l’enfant“: 15. 2., Kino Arsenal 1, 15 Uhr