die taz vor zehn jahren über den „deutschen herbst“ 1977 und die bewältigung der raf-vergangenheit
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Zugang zu den Archiven, die die Marathonsitzungen der Bonner Krisenstäbe im Deutschen Herbst dokumentieren, hatte in den vergangenen zwanzig Jahren eine einzige Person: Helmut Schmidt. Über die – vermuteten – Stammheimer Abhörmaßnahmen während der Schleyer-Entführung gibt es Andeutungen, aber keine einzige definitive Aussage. Die Tonbänder, so es sie gibt, könnten letzten Aufschluß geben über die Selbstmorde der Gefangenen, aber eben auch darüber, was die verantwortlichen Politiker wann wußten, taten oder unterließen. Doch die Aufzeichnungen sind tabu. Warum? Ist es ein Wunder, daß Mutmaßungen und Verschwörungstheorien nicht enden wollen? Bewältigung ist undenkbar, bevor nicht die Archive geöffnet sind und alle Beteiligten reden. Und zwar die Wahrheit. (…)

Der Hang zur Autosuggestion, man kann sagen: zum Trotz, ist auch jenseits der Barrikade weitverbreitet. Unter dem Druck der veröffentlichten Meinung, die die Verantwortung für die Eskalation des Jahres 1977 bequemerweise den Kämpfern von einst allein aufbürdet, gilt dort jedes Schuldanerkenntnis als Sakrileg.

Der Aufbruch zum „bewaffneten Kampf“ war, jenseits aller moralischen Bewertung, unberechtigt von Anfang an, weil Ergebnis fehlerhafter Analyse. Weder waren die Berufsverbote Vorboten eines neuen Faschismus, noch befanden sich, was damals Zehntausende glaubten, die Kräfte des Fortschritts und die der Finsternis weltweit in einem labilen Gleichgewicht. Die phantastische Vorstellung, „schwache revolutionäre Kräfte in den Metropolen“ (im Klartext: 20 entschlossene Leute) könnten gemeinsam mit den Befreiungsbewegungen des Südens das große Ganze zum Kippen bringen, war keine Spezialität der RAF. Sie war grundfalsch und ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund vollständigen Unwissens über die inneren Erosionsprozesse des sowjetischen Machtblocks.

Gerd Rosenkranz in der taz vom 18. 10. 1997