Sechs Augen sehen mehr als zwei

BILDET KOLLEKTIVE! In Dresden schloss sich der Bundeskongress des Freien Theaters dem Festival „Politik im Freien Theater“ an. Das Politische im Theater verorten viele der Künstler heute in kollektiven Produktionsformen

■ Das Festival „Politik im Freien Theater“ läuft noch bis 6. November in Dresden, im Schauspielhaus, in Hellerau, am Flughafen und an anderen Orten. Eingeladen waren 11 deutschsprachige Produktionen, darunter She She Pop mit „Testament“, „Via Intolleranza II“ von Schlingensief, „Arab Queen“ vom Heimathafen Neukölln, und fünf internationale Gastspiele.

■ Noch zu sehen ab 2. November: „Zeichensturm“ aus Österreich, „Arab Queen“ vom Heimathafen Neukölln aus Berlin, „Darfur – Mission incomplete“ von Hans-Werner Kroesinger, „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“ aus Ungarn.

■ Mehr zum Programm unter www.politikimfreientheater.de

VON TOM MUSTROPH

Die Kids heutzutage sind auch nicht mehr das, was die heute 40-Jährigen von ihnen erwarten und wie diese ihre eigene Jugend imaginieren. Zur Eröffnung des Festivals „Politik im Freien Theater“ in Dresden schnippeln zwei Mitglieder der Performancetruppe des spanisch-argentinischen Autors und Regisseurs Rodrigo Garcia aus diversen runden Pizzen jeweils ein Quadrat heraus und berichten entrüstet, dass sie es so bei Jugendlichen in Brüssel und New York gesehen hätten. „Diese Arschlöcher schneiden den Rand ab und schmeißen ihn einfach weg. Sie essen ihn nicht, sie berühren ihn nicht einmal“, schimpfen die Männer. Sie können auf die heutige Jugend offenbar so gut verzichten, wie diese sich des ungeliebten Teigrands entledigt.

Die Pizza-Nummer war der Auftakt einer furiosen, wenn auch schon etwas bejahrten Safari durch die postmoderne Welt mit Stationen bei politischen und sexuellen Gewalttätern. Die wurden freilich nicht im simplen Binärcode als das Andere und Böse angeklagt, sondern als Teil der eigenen Konstitution offengelegt. „Versus“, das Eröffnungsstück des Festivals, offenbarte eine heroische Verzweiflung bei der Suche nach einem richtigen Weg. Sie mündete in der lakonischen Feststellung, dass man allenfalls die Ausbeutungszusammenhänge wählen könne, denen man sich ausliefere. Das ist immerhin ein Anspruch.

Doch er erscheint seltsam kleinmütig im Vergleich zu den rebellischen Gründervätern des freien Theaters. Das „Living Theatre“ etwa engagierte sich noch heftig im Kampf gegen den Vietnamkrieg. Die holländische Theaterguerilla der 1970er Jahre attackierte mit Tomaten und Konzepten das arrivierte Stadttheater. In Deutschland machten das Dortmunder Lehrlingstheater und die „Roten Steine“, Keimzelle der späteren „Ton, Steine, Scherben“, gegen Ausbeutungsverhältnisse und Entfremdung mobil.

Zaungäste des Protestes

Heutige Theatermacher sind allenfalls applaudierende Zaungäste, wenn die Bankenviertel von Manhattan und Mainhattan besetzt werden. Stadttheaterintendanten bewerfen sie statt mit Tomaten mit Kooperationsangeboten. Die Ausbeutungsverhältnisse haben die freien Künstlerexistenzen einfach inkorporiert und klagen sie nur gelegentlich an – zuletzt die Gruppe Copy & Waste mit ihrer Hartz-IV-Italowestern-Hybride „Die blauen Augen des Terence Hill“.

Beim Bundeskongress der Freien Darstellenden Künste in Dresden, der an das Festival „Politik im Freien Theater“ andockte, war immerhin eine Trendwende zu beobachten. Konnte sich der wiedergewählte Präsident des Bundesverbandes Alexander Opitz in seinen ersten Jahren noch mit zwei Handvoll Interessenten quasi privat treffen, so waren jetzt knapp 100 Theatermacher aus der gesamten Republik nach Dresden gereist, um über die Zukunft des freien Theaters zu debattieren. Als ein Echo der politischen Anfänge war der Ausruf „Bildet Kollektive!“ zu vernehmen. Der markierte eine eindeutige Abkehr vom Deregulierungsideal der Projektarbeit, also dem Kosmos der frei fluktuierenden Künstlerexistenzen, die sich nur zu bestimmten Anlässen treffen, um dann zu neuen Konstellationen weiterzudriften. Stattdessen schälte sich der Wert der verlässlichen Kollektivarbeit heraus.

Als „verbindliche Gemeinschaft Gleichgesinnter, die in flachen Hierarchien erfolgreich produzieren und deren Entscheidungen im Konsens getroffen werden“, definierte die Berliner She-She-Pop-Performerin Fanni Halmburger ihren Arbeitszusammenhang. Sie waren mit „Testament“, das sie schon beim Theatertreffen in Berlin zeigten, nach Dresden eingeladen. Halmburger verwies auf die Vorteile des kollektiven Arbeitens: „Jeder identifiziert sich mit dem Projekt. Jeder bringt seine Kompetenzen ein. Es bildet sich Vertrauen heraus.“ Sie differenzierte zwischen der eigentlichen künstlerischen Arbeit, die stets kollektiv und konsensuell geschehe, und der administrativen Tätigkeit, bei der sich einzelne Verantwortungsbereiche herauskristallisiert hätten.

Veit Merkle von der Gruppe Turbo Pascal, die wie She She Pop ebenfalls mit einer Produktion auf dem Bestentreffen des Festivals vertreten ist, hält kollektives Arbeiten für einen Qualitätsgaranten. „Sechs Augen sehen mehr als zwei. Zwar dauern die Abstimmungsprozesse etwas länger. Aber das Ergebnis ist besser“, meinte er.

Geld für den Babysitter

Auch als sozialer Organismus kann ein Kollektiv im Vorteil gegenüber dem Einzelakteur sein, konstatierte Halmburger anhand der Entwicklung der eigenen Gruppe. „Anfangs haben wir die Einnahmen durch sieben geteilt. Als sich herausgestellt hat, dass die einen mehr und die anderen weniger Zeit für die Gruppe einbringen, haben wir Stundensätze festgelegt. Und als wir alle Familien gegründet haben, legten wir einen Teil der Einnahmen für die Bezahlung von Babysittern, für Kranken- und für Urlaubsgeld zurück“, berichtete sie. Fanny Halmburger wandte sich explizit gegen die auch im freien Theater weit verbreitete Hire-&-Fire-Praxis, die Künstler im Krankheitsfall gnadenlos aussortiert. Kollektive tragen, wenn sie funktionieren, Verantwortung für ihre Mitglieder. Das ist prima.

Statt mit Tomaten werfen die Künstler des freien Theaters heute mit Kooperationsangeboten

Für einen neuen Bewusstseinsgrad innerhalb der freien Szene spricht auch die Tatsache, dass viele Vertreter sich deutlich von der Übernahme ihrer kollektiven und wenig hierarchischen Arbeitsformen durch die Wirtschaft distanzierten. „Bei den Unternehmen der New Economy handelt es sich nicht um Kollektive. Da ist ein Solist, der sein Ding macht und die anderen mit Kickerspielen bei Laune hält. Es ist schön, dass es da um eine Art Mitbestimmung geht. Aber das ist niemals Selbstbestimmung, wie wir das anstreben“, meinte Angelika Sieburg vom Frankfurter Wu Wei Theater. Sieburg, die seit 1979 in der freien Szene aktiv ist, schockte ihre eine bis zwei Generationen jüngeren Kolleginnen und Kollegen allerdings mit der Frage: „Bestimmt ihr die Arbeitsweise der Häuser, in denen ihr auftretet, mit?“

Das machen sie natürlich nicht. Interessanterweise wollen sie es auch nicht. „Zu viel administrativer Aufwand“, winkten Merkle und Halmburger bei der Vorstellung, selbst ein Haus zu leiten, ab. Sie wünschten sich stattdessen „mehr Häuser, die mit unseren Produktionsweisen kompatibel sind“. „Keine Intendanten, sondern kollektive Leitungsgremien“, forderte Halmburger explizit. Das ist zwar ein feiner Vorschlag an Besetzungsgremien. Wenn man ihn nur mal so dahinsagt, wird allerdings nur wenig geschehen.

Im vorgewärmten Wasser

Weil einige Theatermacher auch zur Klage anhoben, dass nachfolgende Generationen von den Akademien und Instituten eher nicht zur Gründung von Kollektiven ermuntert, sondern vornehmlich als Schauspieler und Regisseure für den Stadttheatermarkt ausgebildet würden, bleibt der Eindruck einer Künstlergeneration, die verwöhnten Kindern gleich die Einrichtung von Milieus herbeiquengelt, in denen sie sich wie ein bunter Tropenfischschwarm im vorgewärmten Wasser tummeln kann. Sie scheint noch auf der Suche nach der Instanz zu sein, die ihr das Innere aus der Pizza herausschneidet. Auch Künstler sind Kinder ihrer Zeit.

Immerhin will der Bundesverband Freier Theater auf einer Klausurtagung in der nächsten Woche Arbeitsgruppen zusammenstellen, die sich intensiv mit Strukturfragen und Zukunftsszenarien des freien Theaters beschäftigen sollen. Und für das nächste Jahr plant Alexander Opitz eine große Zukunftswerkstatt mit Theatermachern aus der freien und aus der Stadttheaterszene, die gleich das ganze deutsche Theatersystem in den Blick nimmt. Da werden dann nicht nur die Ausbeutungsverhältnisse ausgewählt, sondern vielleicht sogar geändert.