Freundliche Kampfansage

Das Festival „no limits“ verwischt die Grenzen zwischen der Theaterkunst von behinderten und nicht behinderten Schauspielern. Zwei Inszenierungen erzählen über die Erfahrung des Fremdseins

VON IRENE GRÜTER

Ein Halbkreis von Scheinwerfern, drei moosige Vorhänge, ein blauer Mülleimer; mehr braucht Neville Tranter nicht, um seinen Mikrokosmos zu entfalten. Geduckt schleicht er auf die Bühne, lässt die Augen hinter riesigen Brillengläsern hin und her schwimmen wie Fische im Aquarium und lauscht aufmerksam ins Dunkel. Er huscht weg, und auf einmal ist da ein spitzohriges Wesen, über den Arm des Puppenspielers gestülpt.

Der Australier, der den Ausdruck seiner selbst gefertigten Figuren mit minimalsten Bewegungen verändern kann, wirkt stets ein wenig verwundert über das Eigenleben seiner Kreaturen; auch dann, wenn er drei Rollen gleichzeitig spielt und blitzschnell zwischen den Stimmen der Grusel-Menagerie hin und her springt. „Vampyr“, eine Horrorkomödie über das Erwachsenwerden eines Andersartigen, spielt auf einem Campingplatz, der direkt ans Reich der Untoten grenzt. Und gerade weil die Bewohner so verzerrt und permanent fehl am Platz sind, wirken sie urkomisch menschlich.

Einen Weltklasse-Puppenspieler wie Neville Tranter erwartet man nicht unbedingt auf einem Festival für integrative Theaterkunst, doch das gehört zum Konzept von Andreas Meder, der „no limits“ bereits zum dritten Mal in Berlin durchführt. Der künstlerische Leiter fasst die Bedeutung des Wortes „integrativ“ so weit, dass aus dem Programm nicht eindeutig hervorgeht, welche Gruppen mit gehandicapten und welche mit sogenannten normalen Künstlern arbeiten. Denn das zehntägige Festival zielt zwar darauf ab, dass professionelles Theater mit geistig behinderten Schauspielern als künstlerisch interessant, aber keinesfalls als „Behinderten-Leistungsschau“ wahrgenommen wird. Daher setzt das Programm auf eine Mischung von international bekannten Ensembles der integrativen Theaterkunst, lokalen Theatermachern, Puppenspielern und Musikern, die alle in irgendeiner Form grenzüberschreitend arbeiten. Dass die Aufführungen an Spielstätten wie dem HAU, der Kulturbrauerei und dem Ballhaus Ost stattfinden, versteht sich als freundliche Kampfansage an den etablierten Kunstraum.

Entsteht Behinderung erst aus dem sozialen Kontext? Diese Frage stellt das italienische „Isole Comprese Teatro“ in „Fundamente der Defektologie“. Die Italiener können auf langjährige Arbeit mit geistig behinderten Schauspielern zurückgreifen, wie auch das Theater Hora aus Zürich oder die bekannte französische Truppe L’Oiseau-Mouche, die mit „Die Mutter“ einen Brecht-Klassiker nach Berlin zurückbringt. Viele Produktionen thematisieren in metaphorischer Form die Frage nach der Verortung des Menschen in der Gesellschaft, nach der Wahrnehmung des Andersartigen, den Grenzen zwischen Randständigkeit und Norm.

Eröffnet wurde das Festival am Mittwoch mit der Premiere von „Alice in den Fluchten“, dem neuen Stück der Theatergruppe Ramba Zamba, uraufgeführt im Kesselhaus der Kulturbrauerei. An der Rückwand überlagern sich die Umrisse von Körpern zu einem verworrenen Netz von Lebenslinien. Gestalten hasten vorbei, gekrümmt wie Croissants, denn alle schleppen Gepäck mit sich und wissen nicht, wo die Reise enden wird. Frei nach Lewis Caroll wird die Geschichte von Alice erzählt, einer jungen Frau, die in einer chaotischen Umgebung nach einem Platz zum Bleiben sucht. Juliana Götze spielt das sehr ausdrucksstark, wälzt sich vor Freude auf der Bühne, wütet vor Ohnmacht und schmeißt zwei grunzenden Grenzwächtern ihre Kleider entgegen. Oder sie steht einfach da und wundert sich über die seltsamen Spielregeln dieser Welt.

Die Hauptdarstellerin hat das sogenannte Down-Syndrom wie fast alle Schauspieler der Truppe. Obwohl manchen das Sprechen schwer fällt, erstaunt es, wie rhythmisch und präzise das Ensemble das ungewöhnlich textlastige Tanzstück bewältigt. Thematisch wirkt die Inszenierung von Gisela Höhne aber ein wenig überladen: Krieg, Migration, Religionskämpfe – der Wille zum Politischen gräbt da der Dramaturgie manchmal die Luft ab. Am stärksten ist der zweistündige Abend dort, wo die Ästhetik den persönlichen Eigenheiten der Spieler folgt, traumähnliche Bilder baut, die jede gewohnte Logik aushebeln. „Lalala“, antwortet eine Schauspielerin auf alle Fragen, ruht hoheitsvoll in ihren Röcken und bewegt sich nicht vom Fleck. In solchen Momenten kommt die besondere Bühnenpräsenz dieser Darsteller zur Geltung, ihre Lust am Unvorhersehbaren, an Stimmungen, die sekundenschnell umschlagen und den Zuschauerraum überrollen wie eine unbekannte Wetterlage.

Bis 17. 10., www.no-limits-festival.de