Mordsangst

Brecht im Bürgeramt

Kindergeschrei. Ein Kugelschreiber fährt über Formularpapier, kratzend. Ein paar Takte Musik aus einem iPod. Bürgeramt, Wartesaal. Hier versammeln sich die Bürger, um Pässe, Ausweise, Bescheinigungen zu beantragen. Grippe- und Erkältungserreger feiern Urständ. Mit meinem Buch lässt sich das jedoch aushalten, es sind die „Wege zu Brecht“ von Monika Buschey aus dem Dittrich Verlag. Darin beschreibt sie die bitterarme Kindheit der Bühnenlegende Käthe Reichel. Mit der „Mordsangst der armen Leute“, immerzu was falsch zu machen, sei Reichel aufgewachsen: „Hatte man einen Fehler gemacht? Auf der Behörde eine falsche Angabe? – Die Angst war da, wie ein Schatten, aus dem man nicht heraustreten konnte.“

Mir gegenüber sitzt ein magerer Mann im abgetragenen Mantel, er sieht aus wie die personifizierte Urangst vor den Behörden. Die dünnen Lippen zusammengepresst. Die Wangen eingefallen. Die Augen wachsam, mit Adrenalin im Anschlag: Jeden Moment muss man flüchten können. Ein kleines Beutetier in freier Wildbahn. Wann kommt der Löwe, die Tigerin, der Wolf? Stattdessen ertönt ein Gong. Rasch erhebt sich jemand, der dünne Mann seufzt.

Als Käthe Reichel bei Bert Brecht vorspricht, weiß sie nicht, wer er ist: „Der olle Kerl, der ihr als besonders schlecht rasiert aufgefallen war, fragte, ob sie vielleicht Verse könne.“ Gedichte. Mit Poesie von Goethe spielt die Reichel sich in sein Herz. Er nennt sie manchmal „Prinzessin auf der Erbse“. Sie versucht einen Suizid, überlebt. Als er 1956 stirbt, schreibt sie ihm „Windbriefe“. Wieder der Gong. Der Dünne ist dran. Unrasiert auch er. Sein Gesicht ein Knoten aus Angst. Wird ihm mal wer „Windbriefe“ schreiben?

GISELA SONNENBURG