KOPFRECHNEN WÄHREND DER „WINTERREISE“
: 102 Grad Fieber

Bridge & Tunnel

OPHELIA ABELER

Es gibt eigentlich keine vernünftige Erklärung dafür, die Temperatur noch in Fahrenheit zu messen, dieser willkürlichen Skala, deren Werte man als Europäer eigentlich nur auswendig lernen kann, da die Umrechnung in Celsius höhere Mathematik ist – oder können Sie etwa im Kopf ständig °C = (°F –32) : 1,8 rechnen?

Der Grund, weswegen Daniel Gabriel Fahrenheit den Nullpunkt seiner Skala so tief anlegte, war auch kein vernünftiger. Er wollte einfach nur, dass es keine negativen Temperaturen gebe.

Dass nun die USA so dickköpfig an der Fahrenheitskala festhält, passt natürlich zur Geisteshaltung des „positive thinking“. Und wenn man sich die Temperaturen in New York so anguckt, muss man sagen, die Illusion, es wäre gar nicht so kalt, besteht auch bei –15 °C noch, denn das sind immerhin noch 5 °F. Aber es ist eben nur eine Illusion – während Kälte auf Deutsch gemessen hochdramatisch klingt, verhält es sich bei Wärme genau andersherum.

Ohne Oberschenkelhalsbrüche

Fieber auf Amerikanisch misst bei der zurzeit grassierenden Grippe schnell 102 °F, und es hatte auch Gerold Huber erwischt, den Pianisten, der den Bariton Christian Gerhaher seit ihrer gemeinsamen Schulzeit begleitet. Jetzt stand Schuberts „Winterreise“ im Lincoln Center auf dem Spiel. Ein Ausfall wäre schlimm gewesen, denn es gab nur diese eine Aufführung, und die war seit Langem ausverkauft, praktisch gleich im Oktober, nachdem Gerhaher als Jesus in der „Matthäuspassion“ der Berliner Philharmoniker in der Park Avenue Armory so demutsgebietend glaubhaft gewirkt hatte, dass man sich am liebsten von ihm hätte segnen lassen wollen.

Damals äußerte er sich unsicher, ob er mit seiner „Winterreise“ die Alice Tully Hall im Lincoln Center mit ihren mehr als 1.000 Plätzen würde füllen können. Angesichts der Eismassen draußen und der Tatsache, dass das Publikum klassischer Musik vorwiegend deckungsgleich ist mit dem durch Grippe oder Oberschenkelhalsbrüche besonders gefährdeten Bevölkerungsanteil (der aber überdurchschnittlich viele Pelzmäntel besitzt), war es eindrucksvoll zu sehen, dass kein Platz frei blieb.

Huber spielte also trotzdem. Exzellent, aber kreidebleich, sich ab und an den Schweiß von der Stirn tupfend, und es war irgendwie beruhigend, zu wissen, dass Gerhaher zugleich auch Arzt ist.

Es wurde reichlich gehustet, und das massenhafte Umblättern der englischen Übersetzung von Wilhelm Müllers Gedichten klang wie totes Laub, das von kaltem Wind durch die Straßen gefegt wird.

Was aber dann passierte, erinnerte an das Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern. So wie jedes Streichholz, dass das erfrierende Mädchen in ihrer Hand abbrennt, eine magische Illusion hervorruft und in der tödlichen Kälte eine kleine Wärmeblase erzeugt, die das Leben um einen Moment verlängert, so stand Gerhaher vorn und schuf zwischen den traurigen Zeilen und Takten Raum für tief empfundene Freude.

Ja, das Glück des Wanderers liegt in der Vergangenheit, seine Gegenwart ist deprimierend und seine Zukunft scheint kein Versprechen bereitzuhalten. Aber Gerhaher schafft es, seine glücklichen Erinnerungen freizuhalten von übergewichtigen Schatten, zumindest in dem Moment, in dem er sie erneut durchlebt. Dabei kennt er keine Angst vor zu wenig Dramatik, die manche Sänger anzutreiben scheint, die sich mit erschütterndem Tremolo durch die „Winterreise“ jammern. Auch bei Gerhaher verdunkeln die Wolken einen Augenblick später wieder die Sonne, aber er bewahrt seinem Wanderer eine Unantastbarkeit. Es scheint eine Wärme in seinem Innersten fortzuleben, und selbst wenn dies eine Illusion ist, wenn es sich hierbei nur um den Herzwurm handelt: Ist es nicht besser, der Erfrierende reißt sich im Todeskampf vor eingebildeter Hitze die Kleider vom Leib, als dass ihm kalt ist?

Gerhaher ist einer der wenigen, wenn nicht der Einzige seines Fachs, der nicht der Meinung ist, der Weg des Wanderers führe unweigerlich in den Tod. Er ist damit wahrscheinlich der amerikanischste aller Schubertinterpreten, und egal wie Deutsch das Lied – die Temperatur des Abends, die lässt sich tatsächlich ausnahmsweise ganz stur und romantisch besser in Fahrenheit messen.