Nur in Berlin lächeln die Menschen auf der Straße

DISKURS Der italienische Philosoph Franco „Bifo“ Berardi kritisierte am Dienstag in der Berliner Volksbühne die Finanzdiktatur Europas

Franco Berardi kann in klassischen Protesten nur noch Rückwärtsbewegungen sehen. Ein Zurück hinter die Beschleunigungen des aktuellen Kapitalismus werde es aber nicht geben

VON CORD RIECHELMANN

Wenn die Psychoanalyse durch ihre Patienten groß ist und Jacques Lacan der Denker dieser Größe der Patienten, weil er niemals von einem Heilungsfall her argumentierte, dann stand dieser Abend in der besten Denktradition, die Europa zu bieten hat: im Denken der Symptome der Leidenden ohne Ich-Heilplan. Denn ein Heilplan wurde an diesem Abend in Guillaume Paolis Gesprächsreihe „Reden: Im Reich des kleineren Übels. Liberalismus und Liberalismuskritik“ im Roten Salon der Berliner Volksbühne nicht geboten.

Gesprächspartner Paolis war der italienische Philosoph und Medientheoretiker Franco Berardi. Ein Anlass des Abends war dabei die erste Veröffentlichung eines Buches von Berardi in deutscher Übersetzung. „Der Aufstand“, so der Titel des Buches, geriet aber gleich nach seiner ersten Erwähnung wieder in den Hintergrund. Berardi hat das Buch unter dem Eindruck der großen Proteste gegen die europäische Sparpolitik in Großbritannien, Griechenland und Spanien im Jahr 2011 geschrieben. Die Proteste sieht er jedoch in ihrem Aufstand als gescheitert an.

Nichts, nichts, nichts

Was auch damit zusammenhängt, dass den Protestierenden ihre Angriffsadresse abhanden gekommen ist. Es seien schließlich nicht die gewählten Regierungen ihrer jeweiligen Länder, die die großen Macht- und Sparpolitiklinien ziehen, sondern irgendwelche Troikas oder die Europäische Zentralbank oder Finanzexperten, die durch keine Wahl der europäischen Völker je legitimiert worden seien, meinte Berardi.

Berardi sprach dabei von einer Finanzdiktatur, die die gegenwärtige Krise dazu nutze, sich Europa durch die Zerstörung der alten national- und vor allem sozialstaatlichen Strukturen zum Spielfeld der eigenen Aktionen zurechtzulegen. Von der Demokratie sei im Kampf dagegen absolut überhaupt nichts, nichts, nichts – Berardi sagte dreimal nothing im englisch geführten Gespräch – zu erwarten. Wer jetzt aber nach dieser Diagnose einen depressiv-resignativen Abend erwartete, wurde freundlich enttäuscht. Es wurde ein heiterer Abend, der offenbar wirklich am Ort des kleineren Übels stattfand.

Berlin sei, sagte Berardi lachend, zurzeit die einzige Stadt Europas, in der einem die Menschen auf der Straße lächelnd entgegenkämen. In allen anderen Metropolen überwiege der depressive Frust in den Gesichtern. Das hängt zusammen mit dem Scheitern der europäischen Union als Ganzem und dem Sieg der Deutschen darin, die nicht mal zwei verlorene Weltkriege an ihrem Durchmarsch ohne Truppen hindern konnten. Besonders bitter wird dies in Frankreich erfahren, und man kann den Machtwechsel in Europa handfest beschreiben. Im Jahr 2007, als die Iren gewagt hatten, in einem Referendum gegen die Europäische Verfassung abzustimmen, war es Präsident Sarkozy, der den Chef markierte und die Iren zurechtwies: „Die Iren sind verdammte Idioten. Erst stopfen sie sich jahrelang auf Kosten Europas den Bauch voll und dann reiten sie uns in die Scheiße.“

Heute muss man für die Iren nur „Griechen“ schreiben und an die Stelle Sarkozys irgendeinen deutschen Regierungspolitiker setzen, und man ist in der Situation angekommen. Ein Moment, den Paoli auch zur Eröffnung des Abends situationistisch nutzte. Zu Beginn hatte Paoli im Roten Salon einen Vorhang vor einer Spiegelwand zur Seite gezogen, auf der dann mittelgroß und unkuratiert der Satz „Tötet Wolfgang Schäuble“ sichtbar wurde.

Natürlich wollte Paoli den Satz symbolisch verstanden wissen und damit an Christoph Schlingensiefs Aktion „Tötet Helmut Kohl“, die vor dreitausend Jahren an der gleichen Stelle stattgefunden und, wie Paoli sagte, Kohl dann auch tatsächlich abgelöst habe, erinnern. Womit dann einerseits Berardis Untertitel des Aufstands – „Über Poesie und Finanzwesen“ – und der Dissens des Abends in den Blick kamen.

Während Paoli nach wie vor von einer melancholischen Hoffnung um den Erfolg von Protesten, Streiks und Aufständen getragen wird, war Berardi, ohne die Protestierenden zu kritisieren, davon sehr weit entfernt. Nachdem er in einer sehr feinen Analyse den Wahlsieg Margaret Thatchers, den Triumph des Begriffs der Virtualität in Kunst, Medien und Philosophie sowie die Ablösung des Finanzkapitals von der Realwirtschaft in 1980er Jahren als zusammengehörende Parallelbewegungen beschrieben hatte, konnte er in klassischen Protesten nur noch Rückwärtsbewegungen sehen. Ein Zurück hinter die Beschleunigungen des aktuellen Kapitalismus werde es aber nicht geben, betonte Berardi mehrmals. Die Rettung könne nur von einer richtigen Diagnose der Symptome der Leidenden selbst ausgehen.