berliner szenen Die Berufung

Pfandflaschensammeln

Auf dem Weg zum Supermarkt passiere ich regelmäßig einen Gitarristen, der Beatles-Lieder mit einem derart theatralischen Pathos interpretiert, dass ich jedes Mal darauf verzichte, Geld in seinen Becher zu werfen. Diesem Mann, der mit seinem Kopftuch, der Jeansjacke und dem Stoppelbart aussieht wie ein abgewirtschaftetes Mitglied einer Achtzigerjahre-Blues-Rockband, ist es vor einigen Tagen gelungen, mir die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung vor Augen zu führen.

Als ich – unrasiert und mit Pfandflaschentüten in beiden Händen – an ihm vorüberging, sprach er mich an: „Da hinten stehen noch ein paar leere Flaschen.“ „Hmm“, erwiderte ich und überlegte, ob ich mir die Mühe machen und eine oder zwei meiner Pfandflaschen dazustellen sollte, damit er sie später im Supermarkt gegen Geld eintauschen konnte. Doch gerade, als ich im Begriff war umzukehren, wurde mir die wahre Bedeutung seiner Worte bewusst: Nicht ich sollte ihm, sondern er wollte mir einen Gefallen tun.

In seinen Augen war ich einer jener Menschen, die ihr Auskommen damit bestreiten, Mülleimer nach Leergut zu durchforsten. Schon vor einiger Zeit war mir aufgefallen, wie viele der Flaschensammler aussehen. Jedes Mal war ich überrascht, wenn ein adrett gekleideter Mann um die fünfzig an einer Ampel in eine Mülltonne griff. Aber ich, einer von ihnen? Das war zu viel. Doch dann dachte ich: „Was soll’s?“ und nahm mir vor, mich gründlich zu rasieren und einen Frisörtermin zu vereinbaren, sobald ich wieder zu Hause wäre. Aus Respekt vor allen Flaschensammlern von Prenzlauer Berg sollte man mich in Zukunft zumindest für einen der vorbildlich aussehenden Vertreter dieser Zunft halten.

ANDREAS RESCH