Es herrscht Ordnung

ROMA Überwachungskameras, Zwangsarbeit und Polizeikontrollen prägen die Politik des EU-Mitgliedstaates Ungarn gegenüber der größten Minderheit des Landes

■ Bei den Parlamentswahlen im April 2010 gewann der rechtskonservative „Ungarische Bürgerbund“ (Fidesz) eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Seitdem ist das Land, das 2004 der EU beitrat, unter dem Fidesz-Regierungschef Viktor Orbán stramm auf Rechtskurs. Am 18. April 2011 wurde eine ab dem 1. Januar 2012 gültige neue Verfassung verabschiedet. Darin werden unter anderem „Gott“, die ungarische „Stephanskrone“, „Vaterland“, „Christentum“, „Familie“ und „Nationalstolz“ beschworen.

■ Die rechtsextreme „Bewegung für ein besseres Ungarn“ (Jobbik) ist mit 47 Mandaten im Parlament vertreten. Jobbik ist der politische Arm der nach einem gerichtlichen Verbot 2009 wiedergegründeten „Neuen Ungarischen Garde“. Sie dient Jobbik als Saalschutz. Zudem versucht die Garde, sich als Ordnungshüter in kleineren Orten zu etablieren, und hält dort regelmäßige Aufmärsche ab. Dabei soll vor allem die Roma-Bevölkerung eingeschüchtert werden. (bo)

VON RALF LEONHARD

Gyöngyöspata, ein kleiner Ort 80 Kilometer nordöstlich von Budapest, ist ein Experimentierfeld der ungarischen Politik. Während die Regierung mit ihrer „neuen Romastrategie“ die mit 7 Prozent größte Minderheit des Landes besser zu integrieren verspricht, herrscht hier in der Provinz kruder Antiziganismus. Nach den Roma-feindlichen Aufmärschen rechtsextremer Milizen im Frühjahr werden in Gyöngyöspata nun die neuen Bestimmungen für Zwangsarbeit vorexerziert.

Im April wurden angesichts anhaltender Bedrohung mehrere Dutzend Romafrauen und -kinder vom Roten Kreuz evakuiert. Die Behörden sprachen von einem „Osterurlaub“. Seither patrouilliert die Polizei ständig durch das 2.500-Seelen-Dorf. Zusammenstöße gibt es keine mehr. Es herrscht Ordnung.

Im Juli musste ein neuer Bürgermeister gewählt werden, nachdem der alte aus „Gesundheitsgründen“ zurückgetreten war. Erwartungsgemäß setzte sich Oszkár Juhász durch, der Kandidat der rassistischen Jobbik-Partei. Der führt nun ein strenges Regiment. So wurde eine Romni, die ihren Kinderwagen über die Straße statt über den holprigen Gehsteig schob, zu umgerechnet 100 Euro Strafe verdonnert. Der Eingang des Hauses, in dem János Farkas, der lokale Romachef wohnt, wird mit Videokamera permanent überwacht. Und das neue Gesetz, wonach Arbeitslosen die Sozialhilfe gestrichen wird, wenn sie keine gemeinnützigen Arbeiten verrichten, wird in Gyöngyöspata mit aller Konsequenz umgesetzt.

Von den 40 zum Arbeitsdienst eingezogenen Personen gehören 37 der Volksgruppe der Roma an. Die wenigen ethnischen Ungarn im Team dürfen die Aufsicht führen, wenn aufgeforstet wird oder Büsche und Gestrüpp gerodet werden. Auch eine 58-Jährige mit Rückenproblemen und eine junge Frau, die kürzlich per Kaiserschnitt entbunden hat, müssen ins Gelände, wie ein französisches TV-Team dokumentierte.

Die Polizei kontrolliert vier- bis fünfmal täglich, ob auch alle fleißig sind. Ein Mann, der nach der Arbeit ein paar Kilo Geäst als Brennholz mitnehmen wollte, wurde angezeigt und musste Strafe zahlen – eine Maßnahme gegen „Zigeunerkriminalität“. Vor der Arbeit müssen alle zum Appell antreten, wie in der Kaserne oder im Straflager. Als Lohn gab es ursprünglich netto etwa 190 Euro monatlich. Das wurde offenbar als zu großzügig betrachtet und inzwischen auf 150 Euro herabgesetzt.

Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, zeigte sich Anfang Oktober auf dem ungarisch-deutschen Forum in Budapest angetan von der Romastrategie der ungarischen Regierung, die Staatsminister Balog darlegte (siehe Interview). Die Arbeitsprogramme in Gyöngyöspata aber hätten nichts mit nachhaltiger Romapolitik zu tun. Das gilt auch für die Praxis der ungarischen Romapolitik: Von den „breiten und gezielten“ Bildungsangeboten, von Nachhilfe für schwache Schüler oder Berufsbildung für Romajugendliche, die Staatssekretär Balog in Budapest versprochen hatte, ist zumindest im Ghetto von Gyöngyöspata nichts zu sehen.

Bürgermeister Juhász hatte auf seinem Schreibtisch ein iranisches Fähnchen stehen, als ihn die französischen Reporter aufsuchten. Auf Einladung von Jobbik war im Oktober eine hochrangige Delegation aus dem Gottesstaat in Ungarn zu Besuch. Juhász zeigt sich angetan von der Politik der Mullahs: „Die haben bemerkenswerte Erfolge bei der Kriminalitätsbekämpfung.“

Viktor Orbán und seine mit Zweidrittelmehrheit regierende Partei Fidesz distanzieren sich zwar von rassistischen Parolen wie „Geburtenkontrolle bei Zigeunern“ und dem offen zur Schau gestellten Hass auf Roma von Jobbik. Aber die Regierung in Budapest lässt Extremisten wie Juhász gewähren. Kein Wunder, dass Gyöngyöspata auch von Tamás Eszes, dem Chef der rechtsextremistischen Wehrsportgruppe „Véderö“, als Wohnsitz auserkoren wurde. Sein Lieblingsprojekt, ein paramilitärisches Übungslager am Rande des Dorfes, durfte der ehemalige Fremdenlegionär nicht verwirklichen. Anfang November fand man ihn erhängt in seiner Wohnung. Der Selbstmordthese hat bisher niemand widersprochen.