Smogfilm als Straßenfeger

UMWELTPOLITIK Ein Dokumentarfilm der Ex-Fernsehmoderatorin Chai Jing über die Luftverschmutzung in China sorgt für Furore. Er wurde über 200 Millionen Mal aufgerufen. Jetzt haben die Zensurbehörden ihn verboten

„Schon mal Sterne gesehen?“ – „Nein.“ – Wolken?“ – „Nein“

6-JÄHRIGE IN CHINA

AUS PEKING FELIX LEE

Gleich zu Beginn des Volkskongresses, Chinas derzeit tagendem Scheinparlament, hat Premierminister Li Keqiang betont, welch hohen Stellenwert der Umweltschutz für seine Regierung habe. „Die Umweltverschmutzung lastet wie eine Seuche auf dem Leben der Menschen“, erklärte er. Sie müsse daher mit allen Mitteln bekämpft werden. Für zu viel Aufregung soll das Engagement allerdings nicht sorgen.

Die in China landesweit bekannte Journalistin Chai Jing hatte letzte Woche einen Dokumentarfilm veröffentlicht. „Under the Dome“ hat sie ihren Film genannt – unter der Glocke. Detailliert, zugleich emotional bewegend klärt sie darin über die Gefahren von Chinas extremer Luftverschmutzung auf. Mit großer Resonanz: Mehr als 200 Millionen Menschen schauten sich innerhalb von zwei Tagen den Film im Internet an. Prompt rief das die Zensurbehörden auf den Plan: Über die großen chinesischen Video-Websites kann der Film seit dem Wochenende nicht mehr abgerufen werden.

Die 39-Jährige aus Peking hat den Film aus persönlicher Betroffenheit gedreht. Vor einem Jahr gab sie ihre Fernsehkarriere auf, nachdem Ärzte bei ihrem neu geborenen Kind einen Tumor festgestellt hatten. Ihre Tochter überstand zwar die Behandlung, doch seitdem wagt sich Chai Jing mit ihrer Tochter nicht mehr ins Freie. Als wahrscheinlichen Grund für den Tumor hatten die Ärzte die Luftverschmutzung genannt. „Ich sah den Smog plötzlich aus den Augen meiner Tochter“, so Chai.

In dem Film präsentiert sie jede Menge Zahlen, Fakten und deckt Versäumnisse der Behörden auf. In der Kohleprovinz Shanxi interviewte sie eine Sechsjährige. „Hast du schon mal Sterne gesehen?“ – „Nein“, antwortet das Mädchen. „Und Wolken?“ – „Auch nicht.“ Sie zitierte auch den früheren Gesundheitsminister, der vor einem Jahr bekannt gab, dass die Luftverschmutzung für bis zu einer halben Million vorzeitigen Todesfälle im Jahr verantwortlich sei.

Die Staatsmedien griffen den Beitrag zunächst bereitwillig auf. Die Volkszeitung, Zentralorgan der Parteiführung, interviewte Chai sogar. Auch beim neuen Umweltminister Chen Jining fand der Film Zuspruch. Er bedankte sich bei Chai per SMS für das Engagement.

Davon will er jetzt nichts mehr wissen. In einer Pressekonferenz am Samstag betonte er, wie wichtig ein allgemeines Umdenken sei. „Wir müssen unser Emissionsniveau senken“, forderte er. Auf die Internetsperren ging er trotz mehrfacher Nachfragen nicht ein.

Meinung + Diskussion SEITE 12