In Leinen gebundene Leseleidenschaft

LITERATUR Von Lesern für Leser: Der „Berliner Kanon der Literatur“ versammelt 100 Lektüreempfehlungen. Zwei Berliner Buchhändler haben ihn gemeinsam herausgegeben – nach einem Vorbild aus Essen

„Das Bändchen ist natürlich auch ein bisschen unser Stinkefinger angesichts der allgegenwärtigen Digitalisierung“

FRIEDERIKE ZÖLLNER, BUCHHÄNDLERIN

VON JENS UTHOFF

Falls es noch eines Arguments bedarf, warum die kleine Kiezbuchhandlung ein unbedingt zu erhaltendes Kulturgut ist: Voilà, vielleicht werfen Sie mal einen Blick in dieses Buch, und Sie finden einen Grund mehr. Denn dieser schicke, schmale blaue Leinenband, der den unbescheidenen Titel „Berliner Kanon der Literatur“ trägt, wurde nicht nur in Kleinstauflage (500 Stück) von zwei kleinen Buchläden herausgegeben, sondern liest sich auch wie ein Gespräch unter Literaturfreunden in der Buchhandlung am Eck.

Der „Kanon“, den Friederike Zöllner vom Buchlokal in Pankow und Thomas Gralla von der nach ihm benannten Buchhandlung in Lichterfelde kürzlich veröffentlicht haben, wurde von insgesamt 100 ihrer Kundinnen und Kunden, Freunden und Kollegen zusammengestellt – sie empfehlen kurz und knapp auf ein oder zwei Seiten ihre Lieblingsbücher. Man hat es also wohl eher mit einem literarischen Kanon der Berliner Bürger als mit einem „Berliner Kanon“ zu tun.

Der Titel aber war in gewisser Weise schon vorgegeben. Denn ein befreundeter Buchhändler aus Essen-Werden, Thomas Schmitz, hat vor einem guten Jahr den „Werdener Kanon der Literatur“ publiziert. Alsbald sollten Buchhandlungen aus 18 weiteren Städten diesem Vorbild folgen, und es sollte eine Reihe daraus werden (jetzt kann man alle zusammen in einem Schuber erwerben). Zudem gibt es im selben Verlag nun noch einen „Kanon der Buchmenschen“, in dem Literaturpromis Bücher empfehlen.

„Das Bändchen ist natürlich auch ein bisschen unser Stinkefinger angesichts der allgegenwärtigen Digitalisierung“, sagt Friederike Zöllner, deren Buchlokal es seit vier Jahren gibt, „nach dem Motto: Bei uns erscheinen sogar die Kundenrezensionen im Print.“ Zöllner sagt, man habe den Rezensenten eigentlich keine Vorgaben gemacht; nur dass man ein Lieblingsbuch vorstellen sollte. „Im Idealfall ist es das zuletzt gelesene“, wie Zöllner sagt. „So ist eine erstaunliche Bandbreite an Empfehlungen zustande gekommen. Ein schönes, zeitloses Bändchen, in dem sich eine Art Bücherkonsens findet.“

Es ist dabei – wie beim Schlendern durch die Kiezbuchhandlung auch – das Entdecken und das Wiederentdecken, das das Lektüreerlebnis ausmacht. So bekommt man zum Beispiel nicht ganz so berühmte Bücher der Exilliteratur wie Kressmann Taylors „Adressat unbekannt“ empfohlen, man denkt sich bei der weiteren Lektüre, man sollte mal wieder Fontane oder Robert Musil lesen – oder aber endlich den dänischen Schriftsteller Herman Bang für sich entdecken. Und ein paar Seiten weiter lernt man, dass Tove Jansson, Erfinderin der Mumin-Comics und Bücher, auch konventionellere Literatur geschrieben hat.

Eine Rezension beginnt mit den Worten: „Es ist das unglaublichste Buch, das ich je las.“ Dieser Satz macht einen natürlich besonders neugierig; und besser noch: Die Neugier wird während der Kurzeinführung zum Hauptwerk des römischen Dichters und Philosophen Lukrez, „Über die Natur der Dinge“, noch größer. Dass allerdings, wie in diesem Fall, mehrere Verleger im „Kanon“ Bücher aus dem eigenen Hause vorstellen, musste vielleicht nicht sein – es gibt doch so viele gute Bücher!

Unter den Rezensenten besteht zwar ein leichter Überhang an Geisteswissenschaftlern und Akademikern – Verleger und Verlegerinnen, Journalisten und Journalistinnen –, insgesamt aber ist die Mischung gelungen; auch der Steinmetz mit Berufswunsch Schriftsteller, die Hausfrau, die Grafikerin und der Landschaftsgärtner empfehlen ihre Lieblingsbücher. Die jüngste Rezensentin ist 10 und der älteste Rezensent 80 Jahre alt. Dass man den Duktus der Texte oft so belassen und nicht stärker lektoriert hat, ist größtenteils nachvollziehbar: denn da, wo die reine, unverstellte, oft auch begeisterte Leserperspektive eingenommen wird, ist dieses Büchlein oft am spannendsten.

■ Gralla, Thomas; Zöllner, Friederike (Hg.): „Berliner Kanon der Literatur. erste liga in der Edition Schmitz. 123 Seiten, 14,90 Euro. Der gesamte Kanon im Schuber: 298 Euro. Infos: kanonderliteratur.wordpress.com