Ahnungslose Zuschauer

CHAMPIONS LEAGUE Der FC Chelsea scheitert trotz Überzahl gegen Paris St. Germain bereits im Achtelfinale. Trainer José Mourinho macht das eigene Publikum dafür verantwortlich

Die übliche mannschaftliche Geschlossenheit und Gedankenschnelle hatte Chelsea nur beim Reklamieren nach Ibrahimovic’ Foul gezeigt. Für Paris St. Germain erwies sich aber dessen Rote Karte als Glücksfall

AUS LONDON RAPHAEL HONIGSTEIN

Durfte er das? Der junge Chelsea-Fan schaute unsicher nach rechts und nach links: kein Ordner in der Nähe. Langsam kletterte er über die leeren Stühle nach unten, in den abgesperrten Bereich des Oberrangs, jetzt hatte er ihn gleich: den grünen Handschuh, den PSG-Torhüter Salvatore Sirigu im Jubeltaumel versehentlich über den Block der mitgereisten Fans hinweggeworfen hatte. Wieder zurück bei seinen Freunden, betrachtete der Anhänger der Blauen seinen Fund unschlüssig. Es was ein toller Preis, den er nicht wollte. Ein Souvenir der Niederlage.

Der kleine Loyalitätskonflikt auf der „Shed End“-Tribüne nach dem Schlusspfiff passte zu dem aufwühlenden Abend, in dessen Verlauf viele vor lauter Aufregung nicht mehr klar zwischen Freund und Feind zu unterscheiden wussten. David Luiz, der ehemalige Chelsea-Verteidiger und Held des siegreichen Champions-League-Endspiels in München 2012, wurde bei seiner Rückkehr ins Stamford-Bridge-Stadion erst freudig beklatscht, dann als Widersacher von Stürmer-Liebling Diego Costa und als Torschütze (1:1, 86.) vehement ausgepfiffen, später von einigen Bekannten in blauen Trikots mit Küssen verabschiedet und zum Abschied von José Mourinho schnell noch ungalant bei der Uefa angeschwärzt.

Die Rote Karte für Zlatan Ibrahimovic nach dessen schlecht getimter Grätsche gegen Oscar (31.) habe vielmehr David Luiz für seinen versteckten Ellbogencheck gegen Diego Costa verdient, sinnierte der Chelsea-Coach verdrießlich. Der Brasilianer stand zur selben Zeit am Spielfeldrand und entschuldigte sich für seinen ausgelassenen Torjubel. „Es tut mir leid, solche Emotionen gezeigt zu haben“, sagte der 27-Jährige. „Es war schwierig für mich, weil ich glücklich war, zu gewinnen, aber auch bei Chelsea glücklich gewesen bin.“

David Luiz’ fulminantes Kopfballtor hatte Paris St. Germain in die Verlängerung gerettet, für den ausschlaggebenden Treffer der Gäste zum 2:2 (nach Eden Hazards verwandeltem Handelfmeter, 96.) zeichnete jedoch Exkollege John Terry maßgeblich verantwortlich. Der Kapitän verlor komplett den Überblick im Strafraum und hielt in einem Anflug von kurzfristiger Farbenblindheit ausgiebig Mitspieler Gary Cahill fest, anstatt sich um Torschütze Thiago Silva zu kümmern (114.). „Wer zwei Treffer nach Ecken bekommt, hat es verdient, bestraft zu werden“, sagte Mourinho und schob danach verächtlich den Spielberichtsbogen weg, auf dem auch das 7:0 der Bayern gegen Donezk aufgeführt war.

Nach seinem Gewinn der Champions League mit Internazionale 2010 war der leidenschaftliche Provokateur vier Mal in Folge ins Halbfinale des Wettbewerbs gekommen, auf die Rolle als Achtelfinal-Verlierer war er nicht vorbereitet. Es dauerte lange, bis ihm eine Erklärung für die ungewohnt verzagte, unkonzentrierte und vor allem seltsam kraftlose Vorstellung des Premier-League-Tabellenführers einfiel. Für mangelnde Energiereserven gäbe es keine Anhaltspunkte, Chelsea sei wohl eher mit der Erwartungshaltung der Zuschauer nach dem frühen Platzverweis für Ibrahimovic (durch den konfusen Unparteiischen Björn Kuipers) nicht zurechtgekommen, meinte er. „Das Stadion hat nicht akzeptiert, dass die Mannschaft das Spiel kontrollieren muss. Sie wollten, dass wir losziehen und gewinnen. Mit diesem Druck konnten wir nicht umgehen“, so der Portugiese. Ist ja nicht seine Schuld, wenn die Einheimischen keine Ahnung von taktischen Feinheiten haben.

Die übliche mannschaftliche Geschlossenheit und Gedankenschnelle hatte Chelsea nur beim Reklamieren nach Ibrahimovic’ Foul gezeigt. Terry war so schnell zu Kuipers geeilt, dass er den am Boden liegenden Oscar aus Versehen mit dem Fuß im Gesicht erwischt hatte. Für PSG erwies sich die Entscheidung als Glücksfall. In Vertretung von Stand-up-Zampano Ibra riss Stürmer Edinson Cavani mit seinem Eifer die komplette Mannschaft mit.

Es war ein Duell mit vielen schmutzigen Fouls, am Ball aber offenbarte PSG durchgehend technische Brillanz und Courage. „Wir waren Chelsea in allen Positionen überlegen“, urteilte Trainer Laurent Blanc zufrieden. Der heldenhafte Erfolg könne ein „Referenzpunkt“ sein, der Anfang vom Aufstieg des seit 2011 von katarischen Investoren alimentierten Klubs zum „Tisch der Großen in Europa“, sagte der Weltmeister von 1998, bevor er als Triumphator in den von Fans umringten Mannschaftsbus stieg. Auf dem Gefährt prangt als Motto dieser Spielzeit: „Lasst uns größer träumen.“