Unser Gott ist Franz Kafka

LEIPZIGER BUCHMESSE Zum Auftakt wurde der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu geehrt. Ministerpräsident Stanislaw Tillich sprach über Antisemitismus und die DDR, der Autor Uwe Tellkamp kritisierte die Laxheit gegenüber den neuen Nationalismen des Ostens

Cartarescu versteht sich als Werkzeug einer höheren Macht, die ihm einst den Schreibstift in die Hand gedrückt hat. Er pries das schöne Europa, zumindest das der Toleranz und Aufklärung

VON ANDREAS FANIZADEH

„Ich wurde noch nie so gefeiert, in meinem ganzen Leben“, sagte ein sichtlich gerührter Mircea Cartarescu am Mittwochabend im Gewandhaus in Leipzig. „In meinem kleinen Büro in Bukarest schreibe ich zu meinem eigenen Vergnügen, was für eine Ehre.“

Der 1956 geborene rumänische Schriftsteller wurde zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt. Cartarescu gilt als postmoderner Erneuerer der rumänischen Gegenwartsliteratur und unbestechlicher poetischer Chronist des Landes, der das Ende der Diktatur Nicolae Ceausescus sowie den demokratischen Aufbruch Rumäniens in seiner eigenwilligen „Orbitor“-Trilogie erzählerisch festhält.

Eingerahmt von Einlagen des Gewandhausorchesters Leipzig unter Robin Ticciati (man gab etwas Wagner, Berlioz und Beethoven) hielten am Mittwochabend beim Festakt für Mircea Cartarescu Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) und der Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“) bemerkenswerte Ansprachen, dies gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Leipzig und Dresden (Pegida und Legida) sowie in Osteuropa (Ukraine-Krise).

Geschickt verband Ministerpräsident Tillich Vergangenes mit Gegenwärtigem, ohne dabei die rechtspopulistischen Bewegungen in Sachsen unmittelbar zu erwähnen. Tillich rühmte die Bedeutung des diesjährigen Messeschwerpunkts, gewidmet dem 50-jährigen Bestehen der deutsch-israelischen Beziehungen. Er fand klare Worte gegen Rassismus und Antisemitismus und für den von den „Deutschen begangenen Völkermord an den Juden“. Aber, und das war das Besondere an Tillichs Rede, er sprach auch von der besonderen Konstellation im Osten bis 1989. „Ich bin als Sachse“, so Tillich, „in jenem Teil Deutschlands aufgewachsen, der jegliche Verantwortung für nationalsozialistisches Unrecht ablehnte. Die DDR hatte einen Schlussstrich unter die Geschichte gezogen und betrachtete die Bundesrepublik als das Land der NS-Täter.“ Ein wichtiger Hinweis Tillichs, um das Wiederaufleben gewisser Ressentiments im Osten besser zu verstehen. „Erst nach der Friedlichen Revolution“, so führte er weiter aus, „war es möglich, dass wir als ostdeutsche Gesellschaft uns zur Schuld gegenüber dem jüdischen Volk bekennen konnten.“

Warnung vor dem Rollback

Uwe Tellkamp warnte in seiner Laudatio auf Cartarescu vor einem ideologischen Rollback. „Die Gespenster der Vergangenheit“ kehrten zurück, sagte Tellkamp und kritisierte, dass der „intellektuelle Mainstream der westlichen Welt“ zu oft übersehe, wie gerade restaurative Kräfte „die Systemfrage“ neu stellten. „Dabei rühren viele der Konflikte“, so Tellkamp weiter, „in die wir uns gestellt sehen – Stichworte hier nur Ukraine und Griechenland – von alten Bekannten her: Planwirtschaft mit ihren Auswüchsen, Nationalismus (der sich mit dem Sozialismus glänzend vertrug), Missachtung demokratischer Prinzipien, Kontroll- und Normierungswahn.“

Gegen östliche Mythenbildung empfahl er, Gesellschaftsromane wie die von Mircea Cartarescu zu lesen. Cartarescu beschreibe in seiner „Orbitor“-Trilogie mit Galgenhumor, „was in einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleich, aber einige gleicher sind, unter den schönen Worten, den Verheißungen und Parolen im Alltag übrigbleibt.“ Nämlich ein vom „Genie der Karpaten“ (so ließ sich Diktator Ceausescu tatsächlich preisen) mit „Hirnzellen aus Platin“ gelenktes rumänisches KP-Armen- und -Irrenhaus. Cartarescus Romane sind tatsächlich unbedingt lesenswert, auch wenn er es mit seiner einmal angetretenen Flucht in das Künstler-Künstlertum etwas übertreibt. „Unser Gott ist Franz Kafka“, rief er in Leipzig. Er verstehe sich als Werkzeug einer höheren Macht, die ihm einst den Schreibstift in die Hand gedrückt habe. Auch einen Gabriel García Márquez halte er für einen verwandten Europäer im Geiste und pries überhaupt das schöne Europa, zumindest das der Toleranz und Aufklärung. Seine Rede in Leipzig hielt er auf Rumänisch. Nichts gegen Beethoven, aber das war tatsächlich überraschend, die Übersetzung gab es auf Deutsch zum Mitlesen.