„Maßnahmen vom Amt helfen niemandem“

Christine Scheel, pragmatische Flügelfrau der Grünen, widerspricht im taz-Gespräch der Lesart vom Linksruck beim Parteitag

CHRISTINE SCHEEL, 50, ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der grünen Bundestagsfraktion und setzt sich „für eine vernünftige und ehrliche“ Sozialpolitik ein“ (Homepage).

taz: Frau Scheel, wie geht es Ihnen als libertäre Realo-Grüne mit den beiden Anträgen, also dem zur Grundsicherung und dem zum bedingungslosen Grundeinkommen?

Christine Scheel: Ich war früher auch mal eine Befürworterin des bedingungslosen Grundeinkommens. Aber je mehr ich darüber nachgedacht habe, umso mehr bin ich davon abgekommen.

Sie haben also für den Grundsicherungs-Antrag gestimmt. Hinter vorgehaltener Hand schimpfen viele Realos, dass beide Anträge voller Zugeständnisse an die Linken waren. Warum haben sie dann keinen eigenen Gegenantrag gestellt?

Ich wüsste nicht, warum wir das hätten tun sollen. Ich halte es zum Beispiel für richtig, dass das soziokulturelle Existenzminimum, wie in unserem Antrag beschlossen, auf 420 Euro erhöht wird. Denn ich bin überzeugt, dass man nicht Geld an alle verteilen darf wie beim Grundeinkommen, sondern dass man erst mal denen helfen muss, die diese Hilfe benötigen. Und 420 Euro im Monat sind für mich okay.

Die Realos haben sich also nicht nur zurückgehalten und notgedrungen ein paar Kröten geschluckt, um den Parteivorstand zu stützen?

Nein, zumindest ich kann gut mit dem Antrag zur Grundsicherung leben.

Es scheint, der Einzige, der seine Unzufriedenheit mit den beiden Anträgen zugibt, ist der viel geschmähte Oswald Metzger. Machen die Grünen gerade einen allgemeinen Linksruck durch?

Ich sehe keinen Linksruck und ich verorte mich weiterhin im ökolibertären Spektrum. Ich bin und bleibe pragmatisch.

Lassen sich bestimmte Elemente der Abkehr von Hartz IV pragmatisch begründen, zum Beispiel die Individualisierung der staatlichen Unterstützung, was in der Praxis heißt, dass auch Partner von Gutverdienern Recht auf staatliche Hilfe haben?

Ja, denn die Lebensrealitäten sind einfach so, dass jemand, der das Geld nicht braucht und dem es relativ gut geht, nicht aufs Amt geht und sich dem ganzen bürokratischen Procedere dort aussetzt. Deshalb wird sich das mit der Individualisierung in der Praxis schnell relativieren.

Eine weitere Abkehr von Hartz IV ist die von den Grünen soeben beschlossene Aufweichung des Prinzips des Forderns.

Ich sehe das deutlich anders, weil das Fordern und Fördern unter Rot-Grün zwar deutlich formuliert wurde, sich in der Praxis aber nicht wiedergefunden hat. Deshalb brauchen wir eine stärkere Konzentration auf das Fördern. Und nicht Maßnahmen vom Amt, die niemandem helfen.

INTERVIEW: KATHARINA KOUFEN