Messias fährt Straßenbahn

Last Exit Defa: Eine kleine Retrospektive im Babylon und eine DVD-Edition erinnern an die letzten Spielfilme, die unter dem Label des einstigen DDR-Monopolisten Defa produziert wurden. Bedauerlicherweise fehlt ein Name dann doch: Ulrich Weiß

Die letzten Defa-Filme, die ins Kino kamen, hatten kein Publikum mehr

VON CLAUS LÖSER

Am vergangenen Donnerstag erhielt der Defa-Dokumentarfilmregisseur Winfried Junge den „Preis für Verdienste um den deutschen Film“, ausgelobt von der Defa-Stiftung, dotiert mit 15.000 Euro. Die Würdigung zielt vor allem auf den berühmten Dokumentarfilmzyklus „Die Kinder von Golzow“, der mit seinen seit 1961 gedrehten, fast zwanzig Folgen als umfangreichste Langzeitbeobachtung weltweit gilt. Als sich Junge von der Bühne des Kino Babylon in Mitte herab bei mehreren Studiodirektoren und Filmministern der DDR bedankte, korrigierte ihn niemand.

Warum auch? Schließlich stellt das Golzow-Projekt ja tatsächlich bis 1989 eine völlig staatskonforme Auftragsarbeit dar. Nach dem Zusammenbruch der DDR gelang Junge das Kunststück, sein sozialistisches Gruppenporträt zu einer Art ideologiefreien Ethnologiestudie umzucodieren. Bei der Neumontage des alten Materials wurden die propagandistischen Kommentare (unter anderen von Uwe Kant) weggelassen, neu gedrehte Szenen hinzugefügt und das Ganze als gesamtdeutsches Kontinuum verkauft. Winfried Junge, der auch Filme mit so schönen Titeln wie „Einberufen“ oder „Ich bin ein junger Pionier“ zu verantworten hat, etablierte sich erfolgreich in der marktwirtschaftlichen Filmlandschaft. Damit stellt er unter seinen ostdeutschen Kollegen eher eine Ausnahme dar – viele von ihnen bewältigten den Systemübergang weit weniger stabil.

Mit welchen Hoffnungen und Irrtümern das Filmemachen in der DDR verbunden war, ist besonders deutlich auch an der Schlussphase der Defa abzulesen. Im Herbst 1989 schienen plötzlich all die Vorhaben in greifbare Nähe gerückt, die vorher jahrelang an der Zensur gescheitert waren. Neben einer ganzen Reihe von relativ jungen Filmemachern wie Maxim Dessau, Andreas Höntsch oder Dietmar Hochmuth, die überhaupt erst ihren Einstieg schaffen wollten, drängten mit Egon Günther oder Heiner Carow auch ältere Kollegen zurück ins Studio, deren Wunschfilme lange auf Eis gelegen hatten. Innerhalb kurzer Zeit entstanden nun zahlreiche Spielfilme mit vermeintlich brisanten Themen. Da die Rahmenbedingungen der verhandelten Probleme bereits verschwunden waren, erwies sich jedoch auch die gesellschaftliche Relevanz als obsolet. Als nun die allerletzten genuin ostdeutschen Filme ins Kino kamen, gab es dafür schlicht kein Publikum mehr; das war ohnehin schon lange vorher abhanden gekommen.

Paradoxerweise produzierte die Defa noch lange über das Ende der DDR hinaus weitere Filme – ein bis heute kaum wahrgenommenes filmhistorisches Kapitel, das nun mit einer Filmreihe im Babylon und einer DVD-Edition etwas besser beleuchtet wird. Die meisten der in dieser Phase entstandenen Filme scheiterten am Unvermögen, sich von der bleischweren Last des Defa- Erbes zu befreien. Inhaltlich zwar mit neuen Akzenten hantierend, wurden doch die gleichen starren Methoden bei der ästhetischen Umsetzung an den Tag gelegt. Selbst ein Routinier wie Frank Beyer bediente in seinem Fluchtdrama „Der Verdacht“ die kunstgewerblichen, noch aus der Ufa-Zeit übernommenen Mittel und fiel weit hinter eigene, frühere Filme zurück.

Nur die größenwahnsinnigen Mysterienspiele „Das Land hinter dem Regenbogen“ und „Novalis“ von Herwig Kipping erreichten so etwas wie eine formale Emanzipation. Wieder einmal drängt sich der Eindruck auf, dass Fiktionalisierung nur ansatzweise in der Lage ist, gesellschaftlichen Umwälzungen zeitnah gerecht zu werden – parallel entstandene Dokumentarfilme von Thomas Heise, Petra Tschörtner, Jürgen Böttcher, Gerd Kroske, Andreas Voigt oder Helke Misselwitz zeugen von weitaus reiferer künstlerischer Perspektive.

Auf schmerzliche Weise geriet auch der Regisseur Ulrich Weiß mit seinem Spielfilm „Miraculi“ in die Mühlen des Defa-Niedergangs; leider wurde er für die aktuelle Filmreihe im Babylon nicht berücksichtigt. Weiß hatte mit „Dein unbekannter Bruder“ (1982) und „Olle Henry“ (1983) zwei der wichtigsten Filme der späten DDR gedreht. In ihnen behandelte er mit souveräner Handschrift universelle Themen wie Verrat und Illusionsverlust, dies auf für die Defa völlig neue, ambivalente Weise. Die Filme errangen Preise (so auf dem Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken), ihr Urheber erregte bei den DDR-Kulturfunktionären jedoch zunehmend Misstrauen. In der Operativen Personenkontrolle (OPK) „Bruder“ attestierte die Staatssicherheit dem Film „Dein unbekannter Bruder“ „Verwechslung des antifaschistischen Widerstandes mit Aktionen der RAF“ sowie eine „karikierende Darstellung der Arbeiterklasse“.

Eine Einladung nach Cannes wurde durch die „Hauptverwaltung Film“ des Ministeriums für Kultur der DDR ebenso verhindert wie eine Berufung von Weiß in die Jury von Saarbrücken. Defa-Spielfilmdirektor Hans Dieter Mäde bremste Ulrich Weiß systematisch aus; bis zum Ende der DDR stand er quasi unter Berufsverbot.

1991 wurde mit „Miraculi“ dann ein bereits 1978 erarbeitetes und prompt abgelehntes Szenarium erneut in Angriff genommen. Erzählt wird darin die Geschichte eines jungen Mannes, der wegen geringfügiger Vergehen zum Außenseiter stigmatisiert wird und orientierungslos mit der Straßenbahn kreuz und quer durch Halle an der Saale fährt. Er erklärt sich nach einer plötzlichen Intuition zum Fahrscheinkontrolleur, später sogar zum Messias. Wovon er künden soll, bleibt offen. Sein Vater beschimpft ihn als „Arbeiterverräter“, seine ehemaligen Saufkumpane verprügeln ihn und werfen ihn aus dem fahrenden Waggon. Weiß’ Film, der nächstes Jahr als DVD erscheinen soll, steckt voller Verweise, Anspielungen und Zitate. Traumwandlerisch beschreibt er die Geworfenheit seines „Helden“, der sich einem permanenten Zustand des Übergangs ausgesetzt sieht. Ulrich Weiß ging dem deutschen Kino verloren – so wie in seinem Film ein ganzer See über Nacht verschwindet. Das Oeuvre des Künstlers selbst rutschte in den von ihm beschworenen, schwarzen Spalt der Zeit. „Miraculi“ blieb sein letzter Film.

Termine im Babylon: Di., 27. 11. um 19.30 Uhr „Zwischen Pankow und Zehlendorf“ (1991, Regie: Horst Seemann), Di., 11. 12. um 19.30 Uhr „Jan und Jana“ (1992, Regie: Helmut Dziuba, Di., 8. 1. um 19.30 Uhr „Verfehlung“ (1992, Regie: Heiner Carow) „Miraculi“ (1991, R: Ulrich Weiß) erscheint 2008 als DVD bei Icestorm Entertainment