„TAGES ARBEIT! ABENDS GÄSTE!“ NACH J. W. V. GOETHE
: Das Grunzen vor der Riester-Rente

VON MIGUEL SZYMANSKI

Es war eine Schrecksekunde in Frankfurt, Leipziger Straße, in der kleinen Bäckerei neben dem Zeitungskiosk: „Ruhe!“, brüllte die Brotverkäuferin hinter der Theke in den Raum hinein. Die Leute an den Tischen zuckten beim Kommando an die Kundschaft zusammen. Unterhaltungen gefroren wie die große Welle vor Kanagawa auf dem Farbholzschnitt von Hokusai. Ein Stück Croissant blieb mir im Hals stecken. Ich trank einen Schluck des zu dünnen Kaffees zum Herunterspülen. „Bei dem Lärm kann doch kein Mensch arbeiten“, schrie die Frau ein paar Dezibel leiser hinterher.

Die Menschen um mich herum hatten sich in meiner südländischen Wahrnehmung ganz normal unterhalten, während ich in meiner Zeitung blätterte. Drei Mädchen, Schülerinnen oder junge Studentinnen, an einem Tisch, ein älteres Paar an dem anderen und vier graue Anzüge direkt neben mir. Typische Krawallmacher.

Es ist etwas deprimierend: Stehcafés in Bäckereien gehören zu den meist frequentierten und geselligsten Treffpunkten in Deutschland. Aber arbeiten und laut schwatzen geht nicht. Arbeit wird in Deutschland sehr ernst genommen. In deutschen Unternehmen haben die Mitarbeiter, mit denen ich bisher zusammengearbeitet habe, selten Zeit, länger als fünf Minuten am Tag miteinander zu reden. Selbst in Agenturen und Redaktionen, Arbeitswelten, die von der Kommunikation leben, beobachte ich arbeitsbesessene Chefs, die statt zu grüßen nur kurz grunzen – oder nicht einmal das. Arbeit adelt. Arbeit macht frei.

Nichts ist so wichtig wie Arbeit in Deutschland, egal ob wir an der Supermarktkasse sitzen, journalistisch über die Inhaltsstoffe von Waschpulver recherchieren, in Kameras lächeln, Unternehmen leiten oder in einer Fabrik Pleuelstangen polieren. Frau Merkel hat noch neulich 30 Stunden am Stück durchgearbeitet, meldete die Presse, um den Weltfrieden zu verlängern und die Eurokrise zu verkürzen. Wer seiner Arbeit nicht alles anderem im Leben unterordnet, ist, um es in Business-Denglish zu sagen, ein Fuck-up.

Nicht jede Arbeit wird gleich hoch angesehen, aber jede wird gleich ernst genommen. Deswegen sehen die Menschen, die in Restaurants bedienen, hinter Schreibtischen sitzen, Waffensysteme entwickeln, Brot verkaufen, Würste oder Seiten füllen, immer so ernst aus. Zum Lächeln ist noch Zeit genug, wenn man mit Enkelkindern oder Dackeln Gassi geht.

Nicht die ganze Welt ist geprägt von dieser protestantischen Made-in-Germany-Arbeitsethik, die in das überschwappt, was man früher Freizeit nannte (heute Fitnessstudio oder Life-Balance-Workshop). Sechzehn Stunden Perfektionismus am Tag ist gut für Autos und andere Maschinen, aber schlecht für Menschen und Beziehungen.

Irgendwann hat Deutschland „Tages Arbeit! Abends Gäste!“ vergrault. Goethe könnte das nicht verstehen. Aber schon Thomas Mann reagierte cholerisch, wenn jemand in Nähe seines Arbeitszimmers vernehmbar sprach, auch wenn viele seiner Arbeitstage vor dem Mittagessen endeten. Mit Schröder und seiner Agenda wurde alles schlimmer. Jetzt mit Merkel sind alle überglücklich – das Land arbeitet sich statistisch in Richtung Vollbeschäftigung. Viele haben sogar zwei Jobs. Merkwürdig, dass nicht alle Länder nach deutschen Rezept leben wollen. In Südeuropa glauben Menschen noch an ein Leben vor der Riester-Rente und dem Walhall der Exportweltmeister.